Ferienland Schweiz
Die meistunterschätzte Ferienregion der Schweiz
Gregor WaserVor 72 Stunden befand ich mich noch am Ufer des Neuenburgersees mitten in der Jungsteinzeit, im Neolithikum, nun zum Ende des Kurztrips stoppe ich auf der schönsten Schweizer Autobahnraststätte, La Gruyère – und blicke auf den Greyerzersee und hinüber zum Moléson, zu den Rundungen der Freiburger Voralpen. Die Eindrücke der letzten drei Tage türmen sich. Dieser Kanton verblüfft und gehört wohl zu den meistunterschätzten Ferien- und Entdeckungsgebieten der Schweiz.
Fragen Sie mal einen Zürcher oder Ostschweizer Kumpel, was er oder sie denn vom Kanton Freiburg kenne? «Mmh, war ich sicher schon, zumindest schon durchgefahren Richtung Genfersee». Viel mehr ist eben nicht zu erfahren. Das hat auch damit zu tun, dass man hier nie genau weiss, wo der Kanton Bern aufhört, wann der Kanton Waadt beginnt. Erst recht nicht am südlichen Ufer des Neuenburgersees, wo ein Flickenteppich an Exklaven die Kantonsgrenze komplizieren. Murten gehört zu Freiburg, Avenches und Payerne zur Waadt, Estavayer-le-Lac wiederum zu Freiburg.
Auf der Anfahrt zum schönen Städtchen Estavayer fallen die durchgekämmten Felder auf, jeder Quadratmeter steht unter bäuerlicher Kontrolle, hier gedeihen Raps, Mais, Weizen, Kartoffeln. Nach einem Spaziergang durch die verwinkelten Gassen zum imposanten Schloss Chenaux und einem kurzen Stopp am Sandstrand von Estavayer, stehe ich bald mal mitten im Dickicht. Denn entlang des gesamten Südufers des Neuenburgersee erstreckt sich eine fantastische Naturlandschaft, unberührt und geschützt – La Grande Cariçaie genannt.
Den Abschnitt von Estavayer bis Gletterens nehme ich unter die Füsse. Und bald wird klar, was Biodiversität heisst – das pure Gegenteil der am Morgen durchfahrenen Biomonotonie.
La Grande Cariçaie entstand in den Jahren 1868 bis 1891 bei der ersten Juragewässerkorrektur, als Neuenburger-, Bieler- und Murtensee um gut drei Meter gesenkt wurden, um Überschwemmungen einzudämmen. Das entstandene Seeuferfeuchtgebiet erstreckt sich auf total 40 Kilometern von Yverdon-les-Bains bis Cudrefin. Drei Stunden lang staune ich auf meinem Abschnitt des Wanderwegs 71 (Chemin des Trois-Lac) über die wilde, intakte Natur, ein Paradies für viele Vogel- und Pflanzenarten. Wie wild und ungestüm sich die Natur präsentiert, wenn man ihr freien Lauf lässt, ist eindrücklich.
In Gletterens trete ich aus dem Dschungel heraus – und befinde mich unverhofft im Neolithikum. Doris Aeberhard – sie gehört seit 2005 dem fünfköpfigen Basisteam des Village Lacustre an – erläutert mir das nachgebaute Pfahlbauerdorf, schildert, wie es um 5000 bis 2000 v. Chr. in der Jungsteinzeit hier ausgesehen haben müsste, wie die ersten Siedler am Neuenburgersee gelebt haben.
Bei einem Besuch im Village Lacustre erfährt man zudem, wie Bronze giessen funktioniert, wie Körbe geflochten werden und Speere und Pfeile ihr Ziel finden. Für Familien mit neugierigen Kindern ist der Besuch des Pfahlbauerdorfes genauso spannend wir für Gruppen, die in die Frühzeit eintauchen möchten, um hier etwa einen Workshop durchzuführen.
So hat Fribourg vor 400 Jahren ausgesehen
Anderntags erwache ich im Jahr 1606. Nachdem ich bei Fribourg Tourisme et Région am Place Jean-Tinguely einen Visioguide in Empfang genommen habe – ein handliches Tablet mit Kopfhörer –, horche ich in den nächsten Stunden den Schilderungen von Philippe und Marie, die ihre Stadt, wie sie vor 400 Jahren ausgesehen hat, mir bei jedem Schritt näherbringen.
Plötzlich sehe ich das mittelalterliche Fribourg mit ganz anderen Augen, fasziniert von diesem reichen Erbe. Tore, Türme, Wälle, von Geschichten geprägt.
Oben am Stalden habe ich Geschrei und Gejuchze im Ohr, rasant schlitteln die Kinder die steile Gasse runter. Doch die Oberen schreiten ein, ob des gefährlichen Schlittelritts – «ach, die Mächtigen verstehen schon keinen Spass», beklagt sich eine jugendliche Stimme aus dem Jahr 1606.
In der Unterstadt angekommen, stehe ich an der Mäanderschlaufe der Saane, staune über die oben thronende mittelalterliche Skyline – und über die mir bisher schon bekannte Stadt, die ich nun neu kennenlerne. Überall gotische Fassaden und Befestigungsanlagen, prächtige Brunnen mit allegorischen Figuren und eine Brücke schöner als die andere. Blind muss ich bisher gewesen sein.
Am Bernertor stoppt mich beziehungsweise Marie ein Torwächter und fragt auf dem Tablet-Bildschirm streng: «Wo geht’s denn hin?». Rüber zum Werkhof in die Unterstadt – wo heute ein 52 Quadratmeter grosses Modell mit multimedialen Animationen die Stadt Freiburg eindrücklich zeigt.
Nochmals über eine der schönen Brücke in die Neustadt. Dann sitze ich im Funi. Riecht es hier streng? Oder sind es bloss die Schilderungen darüber, dass die Standseilbahn vom Abwasserballast der Oberstadt angetrieben ist? In einer Minute bringt einem das Bähnli wieder hoch. Und verblüfft realisiere ich, dass ich die Kantonshauptstadt von einer ganz anderen Seite kennengelernt habe.
Viel mehr als Käse
Weitere 199 Jahre später beginnt mein dritter Ferientag. Wir schreiben das Jahr 1805 und das Städtchen Bulle brennt lichterloh. Christophe Mauron, Leiter des Musée Gruérien, erzählt vom Leben der Menschen in der damaligen Zeit und zeigt anhand eines Modells, wie schnell am 2. April 1805 eine Feuerbrunst die Stadt eingeäschert hatte.
Der damalige Alltag der Sennen im Greyerzerland ist heute Kulturgut. Die interaktive Ausstellung gibt treffende Einblicke in das damalige Handwerk und Leben und ist auch für Kinder dank interaktiven Aufgaben sehr abwechslungsreich.
«Die Region ist auch darum so interessant, weil sie schon sehr früh Gruyère-Käse exportiert hat, Richtung Italien, Frankreich und in die ganze Welt. Alpaufzüge und Festtagsbräuche und andere Traditionen zeigen wir hier», sagt der Museumsleiter und er verweist dabei auf weitere einstige Wirtschaftszweige wie die Holzindustrie und Glasbläserei. Der Besuch dieses Museums lohnt sich sehr – erst recht als Appetizer, um mit guten Hintergrundinfos sich auf weitere Entdeckungen in der Region einzulassen.
Und Bulle, mit historischem Zentrum, zahlreichen Läden und regelmässigem Markt, erweist sich als wunderbarer Ausgangspunkt für weitere Aktivitäten. Ich treffe zunächst Guillaume Schneuwly, den Direktor von La Gruyère Tourisme. Er bringt die Region so auf den Punkt: «Unser Vorteil ist, das Greyerzerland ist wie eine kleine Schweiz. Das gesamte Panorama an Aktivitäten und Landschaften lässt sich bei uns erleben. Alles ist da: Schokolade, Käse, Berge, Städte, Kultur. Wir sind klein, aber es gibt hier ganz viel zu entdecken.»
Zudem sei La Gruyère sehr authentisch und den Leuten seien die Traditionen wichtig, ob Alpabzug oder Bénichon Chilbi. «Wir halten die Traditionen nicht nur für die Touristen hoch, wir leben sie auch». Als Highlight nennt er das Thema Gastronomie, etwa bei einem Einblick in die Käseherstellung, dem Genuss eines Fondues oder dem Besuch des Cailler-Schokolademuseums. Weiter stehen hier die vier Skigebiete Charmey, Jaun, Moléson und La Berra hoch im Kurs – auch als Bergerlebnis während des ganzen Jahres mit vielen Wander- und Mountainbike-Routen. Und dann das Highlight, das in normalen Jahren auch viele internationale Touristen anzieht: das Städtchen Gruyère.
Nach einem schwierigen letzten Jahr, bei dem man nie genau wusste, ob, wer und wann die Leute kommen, schildert Guillaume Schneuwly, zeichne sich in diesem Jahr gerade an Wochenenden eine grosse Nachfrage von Schweizer Gästen ab.
Dann also – schliesslich ist Dienstag und kein Wochenendgewusel zu erwarten –, rauf ins Städtchen Gruyère, wo ich trotz 66 bereister Länder noch nie in meinem Leben war. Schon bei einem der drei grossen Parkplätze mit den vielen vorgesehenen Zonen für Reisebusse wird klar: das ist ein Touristen-Hotspot sondergleichen.
Gewiss, die unheimliche Wucht von Machu Picchu und balinesischen Tempeln möchte ich nicht in geringster Weise in Abrede stellen – und ich vermisse Ferntrips schon sehr –, doch einmal eines dieser Schweizer top Highlights näher zu betrachten, hombre!
Umgeben von den Freiburger Voralpen thront dieses Märchenschloss zuoberst im mittelalterlichen Städtchen, mein Finger drückt konstant den Kamerauslöser. Bald kommen schon wieder die Touristenbusse, ein Besuch des Städtchens Gruyère lohnt sich derzeit also besonders. Alleine auf dem Rundweg ums Schloss geniesse ich diesen finalen Höhepunkt der dreitägigen Tour.
Ich komme wieder. Schliesslich habe ich erst einen Bruchteil dieser schönen Region gesehen. Au revoir!