Ferienland Schweiz

Hier gibt sich Winterthur noch wie ein Dorf: die Neustadtgasse an einem Sommerabend. Bilder: Der Internaut

Neustadtgasse Winterthur: eine Dorfstrasse mitten in der Stadt

Andreas Güntert

Selbst Menschen, die die Altstadt Winterthur zu kennen glauben, kennen die Neustadtgasse oft nicht. Schade. Das ändern wir jetzt gleich.

Wenn ich mit Menschen an Starken Strecken spreche, streichen diese oft das dörfliche Feeling ihrer Strasse heraus. Sie sprechen davon, dass sich praktisch ihr ganzes Leben im gleichen Kiez, Viertel oder Quartier abspiele. Wie in einem Dorf, das sie fast nie verlassen.

Das globale Dorf mitten in der Stadt ist gefühlte und gelebte Realität, in Berlin, New York, Zürich und anderswo. So ist das wohl auch an der Neustadtgasse Winterthur. Mit einem Unterschied: An dieser Starken Strecke gibt sich Winterthur – oder «Winti», wie hier manche sagen – tatsächlich noch wie ein Dorf.

Neustadtgasse Winterthur: Dorfgeist, Handwerk, Badehaus

«Als ich zum ersten Mal in die Neustadtgasse kam, da dachte ich, hier sei die Zeit vor hundert Jahren stehengeblieben.» Das sagt Monika Brandes, die seit acht Jahren mit ihrem Laden Duftbar an der Neustadtgasse daheim ist.

Weil die Strasse etwas ab vom Schuss liegt, sei sie nicht attraktiv für globale Ketten. Der obere Graben markiere für viele City-Bummler so etwas wie die Grenze der Altstadt, erzählt Brandes, «sie glauben, dass da nichts mehr komme.»

Monika Brandes (links) und Liliane Oehninger Meier: Happy an der Neustadtgasse Winterthur.

Liliane Oehninger Meier ist mit der Polsterei und Raumgestaltung RO Stoffe sogar schon seit über zehn Jahren an der Neustadtgasse. Was beiden gefällt: Die schmucke Starke Strecke mit ihren verwinkelten Hinterhöfen sieht nicht nur nach Handwerk und Kleingewerbe aus – hier siedeln auch tatsächlich noch Leute, die mit ihren Händen ans Werk gehen.

Bis heute residieren hier noch Steinschleifer und Schneider, Töpferer, Buchbinder und Schreiner. Dazu kleine Läden und Ateliers. Plus das einst erste öffentliche Badehaus der Schweiz (an dessen Mauern Monika und Liliane auf obigem Bild posieren.)

Winterthur Neustadtgasse: Sound of Silence

Die Neustadtgasse gehört definitiv zum Typus der ruhigen Starken Strecke. Die etwas abgeschiedene Lage bringt es mit sich, dass sich der Strom der Laufkundschaft in eher engen Grenzen hält, am Tag wie am Abend.

Wenn aber alle zwei Jahre zum Neustadtfest gerufen wird, ändert sich das gewaltig. Dann ist viel los an der Neustadtgasse. Gleich danach findet unsere Starke Strecke wieder in die gemächliche Altstadt-Ruhe zurück.

Zeuge einer wilden Zeit: Der Africana-Schriftzug, der immer noch an der Neustadtgasse prangt.

Das war vor einigen Jahrenzehnten ganz anders. Mitte der 60er Jahre öffnet just an der Neustadtgasse der Musik-Klub Africana (von Eingeweihten auch «Aff» genannt). Das Konzertlokal mag nicht überall den besten Ruf gehabt haben – aber für die damalige Jugend war es ein Magnet der Extraklasse.

Tempi passati. Das Africana ist schon lange nicht mehr, und in der Neustadtgasse ist nun meist der Sound of Silence angesagt. Das Logo des «Aff» aber ist erstaunlich frisch geblieben und lässt sich auch heute noch gut ausmachen.

Neustadtgasse Winterthur: Ein Kater

Was auch geblieben ist: Ein Tier. Die Neustadtkatze. Oder genauer: Ginger. Ein Kater dieses Namens streift, obwohl sein Besitzer längst weggezogen ist, immer noch durchs Quartier, sein Revier.

Fast alle an dieser Strasse können eine Geschichte zu Ginger erzählen.

Irgendwo muss Ginger stecken, ganz bestimmt. Aber hier oben grad nicht.

Leider ist mir Ginger bei all meinen Besuchen an der Neustadtgasse nie über den Weg gestrolcht. Vorschlag: Wer Ginger begegnet und mir dies mit einem Bild (bitte Querformat) beweisen kann, wird von mir eingeladen an einer Starken Strecke.

Ich schlage hier mal reichlich unoriginell vor: An die Starke Strecke in der Altstadt Winterthur, Genauer: An die Neustadtgasse. In das* Bar, okay?

Ginger macht Rast. Löst das bei Dir vielleicht einen Frisur-Gedanken aus?

Es hat nicht lange gedauert, da hat mich schon das erste Bild erreicht. Es zeigt Ginger, wie er Rast macht auf einer Holzskulptur. Wer ab und zu mal USA-News konsumiert oder ins Präsidenten-Getwitter kommt, könnte dabei aufgrund des Farbenspiels auf eine gewisse Frisur-Analogie kommen.

Danke, Monika, für dieses Ginger-Bild. Wann hast Du mal Zeit für den versprochenen Drink?

*Ja, das Bar. Nicht die Bar. Aber dazu kommen wir gleich noch. Denn jetzt schauen wir uns die Neustadtgasse Winterthur einmal genauer an.

Neustadtgasse Winterthur: Ein Kaffeehalt. Und ein Drink

Anders als etwa der Weserkiez in Berlin-Neukölln ist die Neustadtgasse nicht übermässig mit Wasserlöchern versorgt. Deshalb nehmen wir für einmal Kaffee und Drink am gleichen Ort.

Und zwar nicht in der Bar, sondern in das Bar. Ja genau, das Bar.

Man kann es betrachten, wie man will: Am Schluss ist es immer das Bar.

An der Stelle, wo einst im La Cyma eine Bar und ein Coiffeur-Salon im gleichen Gebäude hausten, lockt nun das Bar. Ein sympathisches Lokal, das bis weit über den Sommer hinein mit langen Open-Air-Holzbänken ausstaffiert ist.

Aber war das Bar? Der sächliche Artikel, könnte man vermuten, sollte vielleicht das Wort «Bar-Sortiment» einläuten. Einleuchtender erscheint, das mit dem Wort «Bar» die Messgrösse für Luft- oder Wasserdruck gemeint ist. Wobei wir später noch beim Thema Wasserdruck vorbeikommen.

Altstadt Winterthur: Ein Shop

Design ist an fast jeder Starken Strecke ein Thema, offt dänisch oder schwedisch besetzt. An der Neustadtgasse übernimmt Finnland diesen Laden-Part.

Finnart wartet mit Designermode, Wolldecken und Barfussschuhen auf. Und natürlich mit dem nationaltypischen Rennerprodukt: Badetücher für die Sauna.

Winterthur Altstadt: Eine Mahlzeit

Wer an dieser Strasse arbeitet, lebt oder unterrichtet, schwört auf einen Quartier-Lunch im Integrationsprojekt Bistro Dimensione. Unterrichten und lernen ist übrigens ein grosses Thema an der Neustadtgasse.

Man kann hier ebenso Stricken wie Nähen lernen. Oder Klavierkurse belegen. Oder sich mit Handlettering vertraut machen. Und wohl noch eine ganze Menge mehr.

Bistro Dimensione: Eine gute Wahl. Wenn die zeitliche Dimension stimmt.

Aber zurück zum Dimensione: Wer extra wegen dieses Bistros an die Neustadtgasse kommt, macht bestimmt nichts falsch. Noch richtiger macht man es, wenn man im lauschigen Hinterhof Platz nimmt. Man muss aber die zeitliche Dimensionen im Auge behalten.

Bei unserem Besuch wurde nur die Mittagszeit bewirtschaftet. Und dies nur von Montag bis Freitag.

Winterthur Neustadtgasse: Ein Mitbringsel

Die Dorfstrasse mitten in der Stadt bietet eine Menge an Geschenks-Einkaufsmöglichkeiten. Sehr ergiebig ist dabei die Duftbar, die auf zwei Etagen angelegt ist.

Wir haben uns für eine Grüntee-Handcreme entschieden. Mit 18 Franken nicht auf der untersten Preiseinsteiger-Linie, macht aber dafür als Geschenk richtig was her. Und duftet gut.

Hart, smart, zart: Für letzteres sorgt dieses Mitbringsel von der Neustadtgasse.

Neustadt Winterthur: Ein Instagram-Moment

Man könnte denken, dass eine so dörflich geprägte Starke Strecke wie die Neustadtgasse nichts hergibt für Leute, die immer Spass an einem Eye-Candy haben. Und sei es nur für Instagram.

Aber auch hier ist die Neustadtgasse ergiebig.

Ausdrucksstark. Künstlerisch verzierte Toilettentüren in das Bar.

Die Neustadtgasse bietet viele Sujets, drinnen wie draussen. Und manchmal auch an Orten, wo man sie nicht vermuten würde. Wir hatten es ja weiter oben mal vom Wasserdruck.

Wenn dieser beim Individuum besonders gross wird in das Bar, dann sucht man die Toilette auf. Und stösst dort auf sehr coole Arbeiten von Nordschwarz. Wo dieses Winti-Künstlerkollektiv seinen Galerie-Laden hat? Blöde Frage. Natürlich an der Neustadtgasse.

Neustadtgasse Winterthur: Die Anreise

Zu Fuss dauert die Anreise vom Bahnhof Winterthur her etwa zehn Minuten. Auf den letzten Metern nicht verzweifeln: Für viele hört die gewerbliche Altstadt am Oberen Graben auf.

Aber dann musst Du nochmal ein paar Extra-Meter machen. Es lohnt sich. Alternativ kann man auch per Bus anreisen. Ab der Station Gewerbeschule führt eine hübsche Gasse direkt an die Neustadtgasse. Die Eingeborenen nennen diesen Weg übrigens das «Katzentörli.»

Für die Serie «Starke Strecke» porträtieren der Internaut und seelenverwandte Autorinnen und Autoren städtische Strassen aus aller Welt, die nicht globalisiert sind.

Kein Starbucks, kein Zara, kein Hennes & Mauritz, kein McDonald’s – sondern lokale und regionale Anbieter aus Gastronomie, Hotellerie, Shopping und Kultur.

«Starke Strecke» ehrt Strassen, die Locals und Zugereiste gleichermassen glücklich machen.

Hier gehts direkt zu allen Starken Strecken.