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Die Einwohner Tallinns können den ÖV gratis nutzen, Touristen nicht. Ob kostenloser, flächendeckender ÖV langfristig überhaupt machbar ist, muss sich noch weisen. Bild: rlanvin

Kostenloser ÖV für alle!

In Estlands Hauptstadt Tallinn ist das ÖV-Netz bereits gratis nutzbar. Nun soll das Konzept auf das ganze Land ausgeweitet werden. Touristen profitieren zwar nicht davon – doch sollten Touristen bei solchen Überlegungen auch einbezogen werden.

Vor fünf Jahren führte die estnische Hauptstadt Tallinn kostenlosen Transport in öffentlichen Verkehrsmitteln (ÖV) ein. Einwohner mussten sich dafür registrieren und erhielten für 2 Euro dann eine «Green Card», welche zur freien Benützung des ÖVs berechtigte. Touristen und Besucher mussten aber weiterhin für die Nutzung des Netzwerks aus Bussen, Trams und Zügen bezahlen.

Inzwischen geht Estland noch weiter: Seit dem 1. Juli kann jeder der 15 Verwaltungsbezirke im Land einen kostenlosen 24/7-ÖV anbieten und erhält für dessen Umsetzung auch staatliche Unterstützung.  Noch machen nicht alle mit; das Gratis-ÖV-Netz ist allerdings schon riesig. Die estnische Regierung folgt dem Beispiel von Tallinn, welches sich auf den Standpunkt stellt, dass ÖV wie Schulen oder Parks für Einheimische kostenlos sein sollte. Diese bessere Mobilität wiederum sollte sich in mehr Unternehmertum und kommerzieller Aktivität niederschlagen.

Für Tallinn scheint die Rechnung aufzugehen, zumal auch bei der Registrierung etwas Geld zusammenkommt, was allerdings ein Einmaleffekt ist. Ausserdem haben Studien gezeigt, dass in Tallinn die ÖV-Nutzung in den letzten fünf Jahren zwar sehr wohl um 14 Prozent gewachsen ist, jedoch der Autoverkehr nur um 5 Prozent zurückgegangen ist. Es waren vor allem bisherige Fussgänger, welche vermehrt auf den Gratis-ÖV umstiegen.

Touristen tragen zum Verkehrsproblem bei

Trotzdem will Estland nun das erste Land der Welt sein, welches komplett freien ÖV anbietet. Auch wenn Touristen weiterhin für ÖV zahlen müssen, sollen sie immerhin indirekt von vernünftigem Autoverkehr, von einem guten ÖV-Netz und von der damit verbundenen Attraktivität des Stadtzentrums profitieren. Aber eben, der effektive Nutzen des Gratis-ÖV ist auch innerhalb Estlands weiterhin umstritten.

Dennoch überlegen auch andere Städte, ihre Verkehrsprobleme mit einem solchen Angebot in den Griff zu kriegen. Paris etwa überlegt sich freien ÖV. Das Problem ist, dass freier ÖV ja irgendwie bezahlt sein muss, und dies wohl nur über Steuern oder, wie in Tallinn, über (allfällig sogar wiederkehrende?) Abgaben zu machen wäre – womit der gratis ÖV eben gar nicht wirklich gratis wäre. Auch in Deutschland gibt es ähnliche Projekte, etwa in Bonn oder Essen. Mancherorts wird über freie ÖV-Dienste am Wochenende nachgedacht. Sicher ist, dass es neue Initiativen zur Regelung der Verkehrsprobleme in Städten braucht – und angesichts der riesigen Mobilität der Touristen müssen diese dabei auch berücksichtigt werden.

(JCR)