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Astrid Wenzke auf der Treppe ihres zerstörten Hauses auf Tortola: «Irma war noch schlimmer, als wie wir es befürchtet hatten.» Alle Bilder: (c) Astrid Wenzke (für BILDGALERIE auf das Hauptbild klicken)

Hurrikan «Irma»: Das Ausmass der Zerstörung sprengt jede Vorstellungskraft

Jean-Claude Raemy

Die karibische Inselgruppe der British Virgin Islands wurde von Hurrikan «Irma» in Mitleidenschaft gezogen, und aktuell zieht mit «Maria» gleich noch ein weiterer Hurrikan vorbei. Die frühere deutsche Honorarkonsulin Astrid Wenzke schildert ihre «Irma»-Erlebnisse und ruft zur Hilfe auf.

Vor weniger als zwei Wochen zog Hurrikan «Irma» über die nordöstliche Karibik. Dabei wurden auch die British Virgin Islands (BVI) hart getroffen: Irma zog mit voller Stärke, also als Hurrikan der Kategorie 5, über die kleine Inselgruppe östlich von Puerto Rico hinweg. Astrid Wenzke, seit fast vierzig Jahren auf den BVI ansässig und bis vor zwei Monaten deutsche Honorarkonsulin der Inseln, war mittendrin – und hat ihre Erlebnisse gegenüber travelnews.ch in einem Telefoninterview geschildert.

«Ich habe in den letzten vierzig Jahren schon neun Hurrikans erlebt. Zwei davon waren ziemlich übel – 1989 zog Hugo als Kategorie 4 über die BVI, 1996 dann Marylin, ebenfalls als Kategorie 4. Damals war nach einigen Tagen alles wieder normal. Was Irma nun aber angerichtet hat, sprengt alles Denkbare», sagt die 71-Jährige Unternehmerin, welche immer noch geschockt ist von dem, was sie miterlebt hat. Sie hat Deutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebt. Die aktuelle Situation in den BVI sei fast vergleichbar…

Frau Wenzke selber verliess ihr Haus auf Tortola am Morgen des 6. September angesichts der drohenden Gefahr, nahm das Wichtigste mit und erhielt beim Premierminister der BVI und seiner Familie – jahrelange Freunde von ihr – Unterschlupf: «Er hat ein stattliches Haus, das jedoch leider diesem Sturm nicht standgehalten hat. Nachdem das Auge durch war, fingen Türen und Fenster an wegzusplittern, danach das Dach. Der sicherste Ort war das Badezimmer. Wir – sechs Erwachsene und ein Hundebaby – haben dann während dem Sturm drei Stunden stehend und betend gemeinsam im Badezimmer verbracht. Als der Sturm um 01.30 Uhr nachliess, gingen wir ins Nachbarhaus. Für die 100 Meter brauchten wir fast 15 Minuten, da alle Bäume entwurzelt im Garten und auf den Autos lagen. Was sich am nächsten Morgen unseren Augen bot, war schlimmer als alle Befürchtungen.» Das Haus des Premiers war weitgehend unbewohnbar geworden. Die Strassen waren übersät mit Bäumen, umgekippten Autos und Tausenden Gegenständen, die der bis zu 235 km/h starke Wind herumgeschleudert hatte. Die Strom-, Telefon- und Wasserversorgungen waren zusammengebrochen und sind bis heute noch nicht wieder instand gesetzt.

Wenzke kämpfte sich nach dem Sturm bis zu ihrem Haus durch und stellte fest, dass das Dach zwar noch da war – allerdings stark beschädigt. Vom Dach über den Geschäftsräumen war so gut wie nichts mehr übrig. Obwohl sie erstmals Spanplatten befestigt und Sandsäcke ausgelegt hatte, war Wasser ins Haus, ins Büro und einen Wedding-Showroom eingedrungen, das Mobiliar war zertrümmert und der Garten mit rund 50 Bäumen und Blumenhecken total verwüstet.

Viele Häuser sind nicht mehr bewohnbar: Die Dächer sind zerstört, das Mobiliar ebenfalls.

«Das Schlimmste sind die Plünderungen»

Damit war Wenzke nicht allein. Auf der Hauptinsel Tortola steht kaum noch ein unbeschädigtes Haus. Die Yachtcharter-Flotte – die BVI haben die grösste davon in der ganzen Karibik – ist zu 95 Prozent beschädigt. Obwohl die Einheimischen relativ schnell die Haupt-Durchfahrtsstrasse wieder befreiten und somit teilweise befahrbar machten, gingen die Probleme nach dem Sturm aber erst richtig los.

«Meine Autos standen nach dem Sturm zwar noch vor dem Haus, aber mehrere Seitenscheiben waren zertrümmert», so Wenzke, «zudem waren von unserem Lieferwagen der Tank leergesaugt und alle vier Räder abmontiert worden.» Plünderungen sind seit dem verheerenden Sturm an der Tagesordnung, «das sind hauptsächlich Leute von anderen Inseln, die hier plündern kommen», glaubt die ex-Konsulin. Die rund 35‘000 Bewohner der BVI, die schon vieles verloren haben, sind nun auch noch diesem Ungemach ausgesetzt.

Glück im Unglück: Eine britische Fregatte konnte drei Tage nach dem Sturm anlanden. Mit dabei: Rund 300 Marines, welche sich bemühen, auf den Inseln für Recht und Ordnung zu sorgen. Dazu auch medizinische Utensilien und Medikamente, die es dringend nötig braucht.

Durchkommen undenkbar - grosse Aufräumarbeiten sind notwendig.

«Alles muss herbeigeschafft werden»

Denn Irma fegte wirklich alles weg. Nebst der Strom- und Wasserversorgung erlag auch die  Telefonkommunikation. In den Läden gab es kaum noch Nahrungsmittel, das wenige vom Sturm Geschonte wurde geplündert. «In der Woche nach dem Sturm habe ich kaum gegessen, obwohl ich noch vor dem Sturm Geld abgehoben hatte – die Bankautomaten sind ja infolge des Strommangels auch nicht mehr zu gebrauchen», erzählt Wenzke, «zum Glück hatte ich wenigstens genügend Wasser gebunkert.»

Doch klagen will die erfahrene Touristikerin – Wenzke war elf Jahre lang General Manager einer Kreuzfahrt-Agentur und baute das Cruise-Geschäft auf den BVI mit auf – lieber nicht. Sie will anpacken und ihre Wahlheimat wieder auf Vordermann bringen. Die ersten Tage nach dem Sturm half sie im «National Emergency Operating Center» mit, welches notdürftig in einem Spital untergebracht war, nachdem das eigene Gebäude von Irma zerfetzt worden war. Vor wenigen Tagen ist sie nun in ihre alte Heimat Berlin gereist, «weil ich von Deutschland aus besser helfen kann als vor Ort», so Wenzke.

Von Berlin aus versucht sie nun Geld und  weitere Hilfe aufzutreiben. Unterstützung hat sie bereits von Rotary Clubs in Berlin und Stockholm zugesichert bekommen, via eigene Kontakte. Die Fastfood-Kette McDonald’s, welche zum Zeitpunkt des Sturms deutschlandweit die BVI auf den Restaurant-internen Bildschirmen präsentierte, verlängert die Werbeaktion freiwillig um einen Monat. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs.

«Wir brauchen dringend Baumaschinen, vor allem ‚Metal Crusher‘, dazu Holzhäcksler und weiteres Material, um die Spuren der Zerstörung zu beseitigen», bilanziert Wenzke. Wasser ist ebenfalls Mangelware. Da das ganze Wassersystem zusammengebrochen ist, stinke es derzeit auf den Inseln. An den notdürftig eingerichteten Tankstellen, die mit Generatoren Benzin pumpen, muss man für eine Tankfüllung bis zu fünf Stunden anstehen. Auch Medikamente und Gesichtsmasken werden dringend benötigt, angesichts der drohenden Seuchengefahr.

Ernsthafte Sorgen macht sich Wenzke überdies, weil nach Irma inzwischen mit Maria ein weiterer grosser Hurrikan Kurs auf die BVI genommen hat. Das gebeutelte Land wird vermutlich gleich nochmals übel getroffen. Der Gouverneur Gus Jaspert – welcher sein Amt übrigens eine Woche vor der Ankunft von Irma angetreten hat – hat erklärt, dass man vor der Ankunft von Maria noch möglichst viel wegräumt, damit aus den Trümmern nicht noch tödliche Projektile werden beim kommenden Wirbelsturm. Seit dem Abend des 10. September gilt überdies ein Curfew, also die Weisung, sich nur im Notfall noch draussen aufzuhalten.

Angesichts der bereits erlittenen und möglicherweise noch nachgedoppelten Tragödie ist somit jede Hilfe willkommen – wer dazu beitragen will, findet Spenden-Infos in der Box rechts im Artikel.

Viele Strassen sind zerstört und nur noch bedingt befahrbar.

«Die Einwohner der BVI sind zäh»

Trotz der Verwüstungen und dem schwierigen Wiederaufbau verlässt Wenzke der Mut nicht: «Die Einwohner der BVI sind zäh und legen einen für die Karibik eher ungewöhnlichen Arbeitseifer beim Wiederaufbau an den Tag.» Was sie ausserdem positiv stimmt: Der Hauptgeschäftszweig der BVI sind Finanzdienste. Diese machen 62 Prozent des BIP aus. Da viele Banker vor dem Sturm flohen und nun aus dem Ausland via PC die Finanzgeschäfte tätigen, ist dieser Zweig eigentlich noch gesund. «Wir hoffen einfach, dass die Finanzleute bald zurückkehren können», sagt Wenzke.

Der zweitwichtigste Zweig ist der Tourismus, der 30 Prozent zum BIP beiträgt. Dort herrscht vorerst das Prinzip Hoffnung: «Wir werden alles wieder aufbauen», kündigt Wenzke an. Die UNO, britische Soldaten, das Hilfswerk Cedera seien schon vor Ort. «Die Natur nimmt und die Natur gibt zurück», glaubt Wenzke überdies – die grünen Inseln der BVI, aktuell kahl und aschbraun, werden schnell wieder grünen.

Inzwischen piepst es bei Wenzke dauernd. Sie erhält zahllose SMS: Hilfsangebote, Mitleidsbekundungen, Informationen. Ernsthafte Sorgen macht sie sich, weil nach Irma mit Maria ein weiterer grosser Hurrikan Kurs auf die BVI genommen hat. Das gebeutelte Land wird in diesen Stunden (Morgen des 20.09.2017) von den Ausläufern des Hurrikans getroffen. Angesichts der vielen Hurrikan-Meldungen fürchtet sie, dass eine Art «Abstumpfung» stattfindet und die Weltöffentlichkeit gar nicht wirklich realisiert, welches Ausmass diese Naturkatastrophen für die Communities auf den karibischen Inseln haben. Nebst Fundraising sei deshalb auch Medienarbeit wichtig.

Und auch damit wird Wenzke fertig werden: Sie arbeitet in den kommenden Wochen in ihrem notdürftig eingerichteten Büro in Berlin Tag und Nacht, damit die BVI möglichst bald wieder das sind, wofür sie bekannt sind  wunderschöne tropische Inseln mit azurblauem Wasser, schmucken Orten wie der Hauptstadt Road Town (Bild unten), freundlichen Einwohnern und einer Willkommenskultur, die ihresgleichen sucht.