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Nach eineinhalb Jahren Unterbruch ist die Reise nach Thailand, hier Koh Phi Phi, wieder möglich. Bild: Jonny Clow

«Eiertanz zwischen wirtschaftlichem Druck und pandemiebedingter Vorsicht»

Gregor Waser

Seit 13 Jahren lebt der langjährige Sportjournalist Bernd Linnhoff in Thailand und verfolgt die Entwicklungen im Land und im Tourismus aus der Nähe. Im Interview schildert er seine jüngsten Eindrücke.

Herr Linnhoff, wie erleben Sie die Entwicklung Thailands und des Tourismus seit März 2020 und Ausbruch der Pandemie?

Bernd Linnhoff

Bernd Linnhoff: Im März 2020 mischten sich Betroffenheit, Neugier und Unsicherheit. Das war eine völlig neue Situation mit einem unbekannten Gegner. Ich kannte das Gefühl nicht, im Supermarkt auf Vorrat zu kaufen und dann mit meiner Frau in häusliche Quarantäne zu gehen. Für sie war das schlimmer als für mich, Thais sind von Haus aus sehr gesellig, sozialer Abstand ist ein Anschlag auf ihr Wesen. Viele Menschen im Königreich fühlten eine diffuse Angst, denn ein Virus kann man weder anpacken noch sehen. Dazu kam, dass Covid-Tests damals aus eigener Tasche bezahlt werden mussten, was sich die meisten Einheimischen überhaupt nicht leisten konnten. Relativ schnell war klar, dass die virale Gefahr nicht so schnell verschwinden würde.

Mein Wohnort Chiang Mai wurde fast zur Geisterstadt. Was hätte es mit unserer mentalen Verfassung angestellt, wenn wir schon damals gewusst hätten, dass wir uns auch im vierten Quartal 2021 noch mit der Covid-Problematik herumschlagen?

Wie beurteilen Sie die Auswirkungen des fehlenden Tourismus auf Thailands Menschen und den Wirtschaftsgang?

Thailands Tourismus trug vor der Pandemie gut zwanzig Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Wenn so ein Faktor wegbricht mit allen direkten und indirekten Folgen, ist das nicht zu kompensieren. Es gibt hier weder eine soziale Absicherung noch eine Rente, wie wir sie in unseren wohlhabenden westlichen Ländern kennen. Wie wohlhabend Länder wie Schweiz, Österreich oder Deutschland sind, merkt man erst aus der Distanz. Der gesetzliche Mindestlohn beträgt hier 300 Baht, umgerechnet aktuell 7,72 Euro. Nicht in der Stunde, sondern am Tag. Wovon sollen die meisten Thais etwas zurücklegen? Die Privatverschuldung war eh schon hoch und ist weiter gestiegen. Wenn dann noch die Jobs wegfallen und die Löhne, ist die Not gross. Diverse Lockdowns betrafen fast alle Branchen, nicht nur den Tourismus. In Chiang Mais schöner Altstadt sind immer noch 70 Prozent aller Läden geschlossen. Unverändert dominieren die Schilder 'Zu vermieten' oder 'Zu verkaufen'. Da leide ich mit, obwohl ich nicht real betroffen bin. Viele Menschen, die in der Stadt ihr Geld verdienten, sind in ihre angestammten Provinzen zurückgekehrt, aufs Land zu ihren Familien. Und Chiang Mai ist ja nur ein Beispiel für ganz Thailand.

Gab es viele Hotel-Konkurse oder Pleiten bei lokalen Tourismusunternehmen?

Da jegliches Einkommen wegfiel, Bankkredite und Mieten jedoch weiter bedient werden mussten, war es logisch, dass unabhängige Hotels, Reiseagenturen oder Fremdenführer ihr Geschäft für immer aufgeben mussten. Genaue Zahlen habe ich nicht. Im Mai prognostierte eine Umfrage, dass 47 Prozent der Hotels in den nächsten drei Monaten schliessen müssten. Ob das so gekommen ist, weiss ich nicht.

«Das Sandbox-Modell ähnelt dem Versuch, zu duschen ohne nass zu werden.»

Was können Sie über Thailands Strategie zur Corona-Bekämpfung sagen?

Strategie ist ein grosses Wort, alle Nationen haben sich damit schwergetan bei der Bekämpfung der Seuche, es gibt keinen Königsweg. Ich habe das angesichts der völlig neuen Sachlage als normal empfunden. Vor gut einem Jahr galt Thailand angesichts der geringen Infektions- und Sterbezahlen als Vorzeigenation und erntete international Anerkennung. Die in dieser Hinsicht nicht verwöhnte Regierung ging offenbar davon aus, die Momentaufnahme könnte von Dauer sein. Und so versäumte sie damals, genügend Impfstoff für später zu bestellen und setzte zudem ausschliesslich auf Impfstoffe aus China. Wegen der Fehler bei der Impfstoffbestellung konnte man der Infektionswelle im Frühjahr nicht wirkungsvoll begegnen, sie dauert an. Zu Jahresbeginn stand Thailand in der globalen Statistik der meisten Infektionen auf Rang 98, aktuell rangiert das Königreich auf Platz 24. Im Moment verzeichnen wir stabil um die 10'000 Neuinfektionen täglich.

Was halten Sie vom Sandbox-Programm?

Der schwierige Eiertanz zwischen wirtschaftlichem Druck und pandemiebedingter Vorsicht muss zu unbefriedigenden Kompromissen führen. Auch das Sandbox-Modell ähnelte dem Versuch, zu duschen und nicht nass zu werden. Im Mix mit Thailands enervierender Bürokratie waren die mit Einreise und Aufenthalt verbundenen Restriktionen nur von Menschen zu ertragen, deren Thailand-Liebe noch grösser ist als die Hindernisse. Im Vergleich zu Hoch-Zeiten kamen wenige Touristen, die zumindest ein Zeichen der Hoffnung setzten. Viele Gäste auf Phuket waren jedoch überrascht, dass sie zeitweise schon deshalb im Hotel bleiben mussten, weil draussen alles geschlossen und Alkoholausschank verboten war. Wenn selbst das Glas Wein zum Essen nicht erlaubt ist, schmälert das vor allem das Gefühl von entspannter Freiheit, das viele mit Thailand verbinden.

Wie verfolgen Sie den wiederkehrenden Tourismus? Sind das mehr als erst einzelne Reisende?

Der angekündigte Wegfall der Quarantäne für geimpfte Touristen ist natürlich ein wichtiges Signal. Bangkok und weitere Provinzen sollen sich öffnen, zusätzliche Lockerungen sollen folgen. Noch ist nicht definitiv klar, aus welchen Ländern die Geimpften kommen dürfen und welche Regeln genau gelten. Meldungen zum Beispiel aus Deutschland besagen, dass die thailändische Botschaft bei Einreisen nach dem 1. November nach wie vor die Buchung eines Quarantänehotels verlangt. Was widersinnig ist, aber nicht überraschend. Das passt zur Flip-Flop-Kommunikation der Regierung. Zahllose Ankündigungen, Verordnungen und Massnahmen wurden über kurz oder lang wieder gekippt. Und laut Umfrage halten 60 Prozent der Thais die Öffnung für verfrüht, die Angst der Einheimischen vor dem Virus ist nach wie vor gross.

«Ich habe nie auch nur einen Moment daran gedacht, in meine deutsche Heimat zurückzukehren.»

Wird der Tourismus in Thailand künftig in anderer, nachhaltigerer Weise erfolgen?

Das ist die Frage aller Fragen. Dieser Tage hat ein Verantwortlicher von der Tourismusbehörde TAT angekündigt, künftig nicht mehr auf überfüllte Bars zu setzen, sondern auf Qualitätstouristen. Auf Menschen, die immer und überall vorbildlich auftreten und möglichst viel Geld im Land lassen. Backpacker, Sextouristen und alle anderen, die sich nicht benehmen können, sollen also sehen, wo sie bleiben. Jedenfalls nicht in Thailand. Was soll das? 2019 kamen knapp 40 Millionen Gäste aus aller Welt ins Land, Bangkok war mit 23 Millionen Gästen die meistbesuchte Stadt der Welt, noch vor den üblichen Platzhirschen London, Paris oder New York. Thailand und die Hauptstadt sind längst Wunschziel für Familien und Paare geworden. Und Backpackern, die Thailand als Destination mitentscheidend auf die touristische Landkarte gehoben haben, muss man nicht verbal ins Gesicht schlagen. Bangkoks berühmt-berüchtigtes Nachtleben gehört einfach zur Stadt, in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung wird es deutlich überbelichtet.

Wie ist die Erwartungshaltung im Land? Rechnet man mit einem ähnlichen Massentourismus wie vor der Pandemie?

Generell denke ich, dass der Nachholbedarf bei Anbietern und Thailandfans so gross ist, dass Nachhaltigkeit zwar eine Rolle spielen wird, aber nicht die stärkste. Obwohl sich Ziele wie die Similan-Inseln oder die Maya-Bucht (bekannt aus dem Film The Beach) nahe Koh Phi Phi ohne Besucher gut erholt haben. Eigentlich erwarten wir alle eine langsam steigende Nachfrage und keinen Massentourismus. Tourismusminister Pipat Ratchakitprakan hingegen prophezeit, Touristen würden Thailand ab dem 1. November Thailand «überschwemmen». Nur Wunschdenken? In diversen Facebook-Gruppen sehe ich gerade allüberall die grosse Sehnsucht, endlich wieder hierher reisen zu können. Viele haben eine ganz spezielle, schwer zu erklärende emotionale Bindung an das Königreich. Zu den Schönheiten des Landes und seinen freundlichen Menschen. Ich kenne dieses Gefühl aus eigener Erfahrung. Nach dreizehn Jahren weiss ich durchaus, dass ich in einem politisch und sozial spannungsreichen Land lebe. Aber nie habe ich auch nur einen Moment daran gedacht, in meine deutsche Heimat zurückzukehren.