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In Kosovos Hauptstadt Pristina ging es in den Sommerferien hoch her – mit der Folge einer deutlichen Zunahme der Corona-Zahlen. Bild: HO

«Ballermann in Pristina»

Die 4. Welle schwappt über die Schweiz. Mit ein Grund: Reiserückkehrer aus dem Balkan. Jetzt fordern erste Politiker wieder eine Reisequarantäne.

Dass die derzeitige Hospitalisationswelle einiges mit Reiserückkehrern zu tun hat, ist in den letzten Tagen klar geworden. Dabei geht der Fokus Richtung Balkan. Bei besonders vielen Rückreisenden aus Nordmazedonien, Kosovo und Serbien sind positive Fälle aufgetreten mit der Folge vieler Hospitalisationen, wie die Corona-Taskforce des Bundes letzte Woche darlegte.

Wer diesen Sachverhalt besser verstehen möchte, sollte sich die heutige Ausgabe von «Apropos» anhören, den täglichen Podcast des «Tages-Anzeigers». Hier kommt Enver Robelli zu Wort, Auslandredaktor, Balkan-Experte und Schweiz-Albaner, der in den letzten Wochen seine Ferien im Kosovo und in Albanien verbracht hat.

Doch was lief nun eigentlich schief? Offensichtlich haben Kosovo und Nordmazedonien erst ab Mai Pfizer- und Moderna-Impfstoff erhalten und verzichteten auf die Anschaffung von chinesischem oder russischem Impfstoff, von dem sich Serbien und Albanien bedienten. «Dann kommen die Folgen von Fakenews hinzu», erzählt Robelli, «die Leute sind sehr anfällig auf Märchen und Verschwörungstheorien und lassen sich nicht impfen. Zudem hat auch die Regierung das Problem nicht mit harter Hand angepackt, in Pristina gibt es ein einziges Impfzentrum».

Rekordanzahl Passagiere in Pristina

Anfangs Juni, als kaum Infektionen auftraten, liess die kosovarische Regierung praktisch jegliche Massnahmen fallen, wie der Balkan-Experte erzählt. Als er in Pristina angekommen sei, habe er sich in einigen Vierteln am Ballermann gewähnt, mit ausufernden Partys, als hätte es Corona nie gegeben. Und zahlreiche, im letzten Jahr verschobene Hochzeiten fanden nun in diesem Sommer statt, nachdem sich viele Verwandte zwei Jahre lang nicht gesehen haben.

Alleine im Juli kamen 446'000 Passagiere in Pristina an. Im Vergleich dazu: im Juli 2019 waren es 280'000. Zusätzlich reisten mehrere Hunderttausend Leute per Bus oder Privatauto in den Kosovo. Die lokale Wirtschaft jubelte, doch die Corona-Zahlen explodierten. Bei der Rückreise in die Schweiz Ende der Ferien sassen Hunderte in vollgestopften Reisebussen, kaum ein Passagier hatte auf der 20-stündigen Fahrt eine Maske auf.

Zum Umstand, dass der Anteil Geimpfter in der Schweizer Diaspora sehr gering ist, sagt Enver Robelli so: «Die Leute aus dem albanischen Raum, die den Staat stets als ihren Feind empfunden haben, haben ein grosses Misstrauen. Dazu kommt, zugespitzt gesagt: zwei Drittel der Kosovaren schlafen auf Facebook. Und in den sozialen Medien kursieren halt sehr viele Verschwörungstheorien, etwa dass der Impfstoff unfruchtbar macht, dass Langzeitfolgen zu befürchten seien, etc.» Viele hätten das Problem auch vernachlässigt und sich wohl gesagt, «lassen wir die anderen Leute zuerst impfen und schauen, was passiert». Weiter sei wohl auch vielen die Registrierung und das Anmeldeverfahren als zu kompliziert erschienen.

Und als skandalös bezeichnet Robelli den Umstand, dass sich viele in Pristina einen gefälschten Test irgendwo in einem Labor beschafft haben und mit diesem wieder in die Schweiz eingereist seien. Jede Kontrolle habe diesbezüglich versagt.

Dass nun der Balkan plötzlich als Sündenbock gelte, sei ein heikles Terrain, «aber ich glaube, man soll dies nicht verschweigen und offen ansprechen. Man soll das Gespräch suchen und die Leute überzeugen, dass sie sich impfen lassen.»

Bundesrat spricht von möglicher Reisequarantäne

Nachdem nun die Schweizer Intensivstationen in den letzten Tagen unter Druck geraten sind, melden sich die Politiker zu Wort. Gesundheitsminister Alain Berset sagt in der «NZZ am Sonntag»: «Vielleicht verlangsamt sich die Entwicklung mit zunehmender Distanz zu den Sommerferien wieder, weil weniger Leute aus stark betroffenen Gebieten zurückkehren. Unterschiedliche Szenarien sind denkbar. Dann braucht es auch keine Ausweitung der Zertifikatspflicht. Im Hinblick auf die Herbstferien müssen wir überlegen, was nötig ist. Da könnte auch die Reisequarantäne wieder eine Rolle spielen.»

Das fordert auch Mitte-Nationalrat Lorenz Hess «Im Hinblick auf die Herbstferien müssen wir aus den Fehlern lernen», sagt er zu «20 Minuten». Laut Hess würden in den Herbstferien mindestens so viele Schweizerinnen und Schweizer im Ausland Ferien machen wie im Sommer. «Die Quarantäneliste muss zumindest für Länder mit hohen Inzidenzen wieder eingeführt werden.» Begleitet werden müsse diese Liste von «rigorosen Grenzkontrollen».

Auch Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel sieht Handlungsbedarf: «Die Situation mit den Reiserückkehrern aus dem Kosovo zeigt, dass Eigenverantwortung in einer Krise nicht funktioniert. Der Bundesrat muss jetzt wieder den Tarif durchgeben und klar definieren, was hinsichtlich der Herbstferien für Reiserückkehrer gilt.» Humbel würde es begrüssen, wenn die Testpflicht für alle rigoros durchgesetzt würde. «Ungeimpfte müssten in Quarantäne und dürften diese erst wieder verlassen, wenn sie nach mindestens vier Tagen erneut einen negativen Test vorweisen können.» Um die Testpflicht durchzusetzen, will Humbel etwa die Carunternehmen in die Pflicht nehmen: «Sie müssten dafür sorgen, dass sämtliche Personen, die per Car zurück in die Schweiz kommen, sich testen lassen.»

Doch was muss passieren – epidemiologisch und zahlenseitig –, damit die Reisequarantänepflicht wieder eingeführt wird? Travelnews hat sich mit dieser Frage heute Morgen an das BAG gewandt. Indes bloss diese Antwort erhalten: «Über allfällige Massnahmen entscheidet der Bundesrat jeweils an seinen Sitzungen».

Nun liegt der Ball beim Bundesrat. Auf die nächsten Ankündigungen – wohl schon am Mittwoch – darf man gespannt sein, insbesondere in der Reisebranche. In fünf Wochen stehen schliesslich die Herbstferien an.

(GWA)