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Die jüngsten Entwicklungen sind kein Grund zur Panik - aber klar ein Grund, sich an die gängigen Corona-Massnahmen zu halten. Bild: Flughafen Zürich

Kommentar Die Reisebranche sollte zu Besonnenheit aufrufen

Jean-Claude Raemy

Die Delta-Variante bereitet Sorgen – und mancherorts wird bereits das Reisen wieder als Sündenbock für steigende Infektionszahlen beigezogen. Zeit für die Reisebranche, darauf hinzuweisen, dass sicher gereist werden kann, und dass die Infektionsherde nicht per se mit der Reisetätigkeit zusammenhängen.

Eigentlich war doch alles angerichtet für das Comeback der Reisebranche. Die zunehmenden Impfraten in der Schweiz führten kurzfristig zum Buchungsboom, zumindest für Badeferien in Europa. Am Wochenende, zum Ferienauftakt in der Schweiz, las man über Schlangen beim Check-in am Flughafen Zürich, wo 44'000 Personen am Samstag/Sonntag abreisen wollten; am Gotthard war der übliche Sommerstau schon Tatsache.

Gleichzeitig aber breitet sich die Sorge über die so genannte Delta-Variante aus. Bereits letzte Woche schrieb Travelnews darüber, dass die Delta-Variante Sorgen bereitet. Am Wochenende doppelten zahlreiche Titel nach - es geht die Sorge um, dass die Delta-Variante «die Sommerferien kaputtmacht» (so der «Blick»). Hinzu kommen besorgniserregende Meldungen, etwa von der «NZZ», in welcher zu lesen ist, dass die Delta-Variante, also genau genommen die «indische» Corona-Variante B.1.617, «sehr viel ansteckender und auch tödlicher» ist als bisherige Covid-Varianten. Parallel dazu liest man von Ansteckungen bei doppelt Geimpften, und liest darüber hinaus, dass die Schweiz ihre Impfziele wohl erst im Herbst erreichen wird. Derweilen schreibt die Schweiz an der Fussball-EM ein Sommer-Märchen - viele sehen dabei aber mit Unbehagen randvoll gefüllte Stadien, gerade in Covid-Hotspots wie Grossbritannien und Russland, und es machen auch Meldungen über massenhaft angesteckte Fussball-Fans die Runde.

Damit ist eigentlich alles angerichtet, dass das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlägt. Und wir hören, dass es bereits einige Rückfragen von besorgten Kunden gibt, viele verunsichert von Titeln wie «Mallorca steht am Rande des Abgrunds» (Blick). Und am Allerschlimmsten: In den Kommentarspalten der grossen Titel häufen sich auch wieder die Äusserungen, dass doch alle Reisenden Schuld an der Misere sind, und man bloss in der Schweiz bleiben solle. Das haben wir in der Reisebranche doch alles schon mal gehört...

An die Eigenverantwortung appellieren

Wie sollten Reiseunternehmen reagieren? Klar ist, dass man sicherlich nicht mit Scheuklappen agieren sollte und somit den Eindruck vermitteln, dass «alles wie vorher» ist. Viele Geimpfte scheinen jegliche Berücksichtiung von «Corona-Umgangsformen» in den Wind zu schlagen, die menschliche Lust nach Austausch und Emotionen (in diesem Fall im Rahmen der EM) ist nachvollziehbar, in ihrer Ausprägung aber doch etwas fragwürdig. Wer sich die Einreisebestimmungen z.B. im IATA Travelcentre anschaut, sieht bei den EM-Austragungsorten zahlreiche Ausnahmeregelungen für die Fussballfans. So etwas macht die Corona-Massnahmen unglaubwürdig.

Das sind aber Entscheidungen auf politischer Ebene, und nicht solche, die von der Reisebranche gefällt werden. Die Reisebranche hat sich der geforderten Corona-Massnahmen dezidiert angenommen und solche in Flugzeugen, Hotels, Kreuzfahrtschiffen und anderswo rigoros umgesetzt. Ein Rest-Risiko bleibt natürlich immer. Aber dieses hat man auch, wenn man in Zürich am See spazieren geht, und noch viel mehr, wenn man an einem überfüllten Public Viewing sich die Seele aus dem Hals schreit - während vor wenigen Wochen noch das Singen an Schulen verboten war.

Nein, in der Schweiz bleiben ist nicht sicherer. Es bietet bestenfalls im Problemfall etwas mehr Komfort, da man «zuhause im eigenen Land» ist. Wer reisen will, soll das auch weiterhin tun dürfen. Ein kompletter Lockdown auf alle Seiten hin würde nichts bringen, dafür ist es einerseits wohl eh schon zu spät, andererseits wäre es nun wirklich mal an der Zeit, «mit Corona leben» zu lernen. Der Bundesrat und alle Fachstellen hatten es bei den Ankündigungen der Lockerungsschritte klar gesagt: Die grundlegenden Corona-Massnahmen (Distanz, Händewaschen, Maske wo nötig) sollten weiterhin eingehalten werden. Das gilt im Inland wie im Ausland.

Sprich: Die Reisebranche muss einmal mehr proaktiv Zuversicht fürs Reisen schaffen. Zeigen, dass sicheres Reisen möglich ist. Aber auch klar festhalten, dass weiterhin Ansteckungsgefahr besteht - im Ausland nicht höher als bei uns (was sagen nackte Statistiken denn schon über reale Ansteckungsgefahr aus), aber dennoch. Die Reiseberater müssen die Reisenden unbedingt an ihre (Selbst-)Schutzpflicht erinnern, auch wenn diese schon geimpft sind. Jeder muss seinen Teil beitragen. Das Verhalten ist relevant, nicht der Aufenthaltsort.

Es darf einfach nicht sein, dass die Reisebranche, welche aufgrund der Virusmutationen und des allgemeinen Corona-Chaos wohl noch viele Monate zu beissen haben wird, noch einmal die Schwarzpeter-Karte zugespielt bekommt. Falls die Herbstferien trotz guter Vorausbuchungen abermals Corona-bedingt ins Wasser fallen, dann ist jedenfalls nicht die Reisebranche schuld. Schuld sind alle, die sich jetzt leichtsinnig dazu haben verleiten lassen, Corona als beendet zu sehen und wieder in alte Muster verfallen sind.