Destinationen
Kommentar Wir brauchen Weihnachten jetzt schon im Sommer
Jean-Claude RaemyDas Wehklagen in Deutschland war diese Woche gross nach dem Entscheid über den neuerlichen Lockdown, auch wenn dieser nachträglich noch abgeschwächt wurde. Auch in der Schweiz verharrt die Stimmung in der Reisebranche - wie auch in der Gesamtbevölkerung - in einem Dauertief. Beschränkungen hier, Quarantäne da, unklare Regelungen dort.
Die Politik zeugt, gerade in Bezug aufs Reisen, nicht von sonderlich viel Vorstellungskraft hinsichtlich gangbarer Lösungen. Der Aufruf, aufs Reisen zu verzichten, hat insofern gefruchtet, als damit die Reisebranche zugrunde gerichtet wurde, aber zweite und dritte Wellen wurden damit nicht verhindert. Der ohnehin von tiefer Nachfrage gebeutelten Reisebranche wurden mitten in der Krise Investitionen abgefordert, um das Reisen überhaupt möglich zu machen, in Form von strengen Hygienemassnahmen in Flugzeugen, auf Schiffen, in Hotels, im Reisebüro. Diese Hygienemassnahmen sind sinnvoll. Aber der Lohn für die Umsetzung dieser Massnahmen waren jeweils Regelungen, nach welchen eben doch nicht vernünftig gereist werden konnte. Und ein Brandmarken des Reisens per se und damit der Reisebranche als «Pandemietreiber».
Jetzt aber Halt mal. Wer hat hier seine Hausaufgaben nicht gemacht? Sicher nicht die Reisebranche, die hartnäckig um ihr Überleben kämpft und jede neue Hürde kreativ zu meistern versucht. Sind es die Reisenden selber? Klar, es gibt Reisende, die sich leider wenig um Hygienemassnahmen im Ausland scheren. Es gibt Bilder aus Florida, wo Spring Break gefeiert wird, als ob es kein Corona gäbe. Tja, aber diese Kids dort erhielten eben von der Politik (in diesem Fall vom Gouverneur von Florida) auch klare Signale, dass der Staat offen und sicher sei. Man muss hier aber festhalten: Die meisten Reisenden - gerade international Reisende viel mehr als im eigenen Land Reisende - halten sich generell gut an die Auflagen des «new normal» (Maske, Distanz, Desinfektion). Und wäre das Reisen wirklich in dem Masse schuld an der Pandemie, wie das gerne vorgebracht wird, würden wir dazu gerne mal endlich verlässliches Zahlenmaterial sehen.
Was tut die Politik? Sie verwirrt. Sie verbietet. Aber sie bietet bislang keinen vernünftigen Weg zurück in ein Leben, in welchem grenzüberschreitende Mobilität wieder normal ist. Und in der globalisierten Welt ist dies nicht nur ein «Privileg», wie man uns nun weismachen will. Es gibt zahllose internationale Familienbindungen. Die Wirtschaft muss auch vernünftig international operieren können (Stichwort Geschäftsreisen). Reisen sind für die gebeutelte Psychohygiene der Bevölkerung wichtig. Und nicht zu vergessen: Tourismus ist der weltweit grösste Arbeitgeber! Wir sind gerade daran, zahllose Existenzen insbesondere in ärmeren Zielgebieten aufs Spiel zu setzen - und wundern uns dann wieder über Migrationsströme.
Stopp dem Hüst und Hott
Wohlbemerkt: Es braucht keine Rückkehr zum «status ante quo». Gesundheitliche Massnahmen und Einschränkungen sind in der Reisewelt angekommen. Wenn sie gefordert werden, um wieder reisen zu können, werden sie umgesetzt und akzeptiert. Aber das Komplettverbot von Reisen, ob in diesem Wortlaut verordnet oder mittels Quarantänelisten und ultra-komplizierten Einreiseprozeduren verklausuliert durchgesetzt, können doch keine Lösung sein - und wie gesagt, bislang gibt es auch keinen Beleg dafür, dass solche Massnahmen nachhaltige Besserung der Lage gebracht hätten.
Die grosse «Morgenröte» in diesem Schlamassel bilden die Impfungen. Viele Länder haben richtig Dampf gemacht, und immer mehr Länder gewähren nun Geimpften bereits relativ freien Zutritt ins Land. Dass gerade die «Reiseweltmeister» der Schweiz oder auch Deutschland ihre Impfstrategie verkorkst haben, ist bedrückend. Wir sind beim Impfen hintendrein und können sogar erfolgte Impfungen im Sommer dann kaum nachweisen, nachdem es beim schweizerischen elektronischen Impfausweis MeineImpfungen.ch zu Verzögerungen kommt – die «Republik» hatte gravierende Sicherheitsmängel festgestellt. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Schweizer nicht zu den ersten gehören werden, welche wieder in die USA oder auch nach Thailand zurückkehren dürfen, da auch dort bei der «Reopening Strategie» die Impfsituation für die Einreiseerlaubnis entscheidend sein wird.
«Revenge Travel» ist ein echtes Bedürfnis
«Reopening Strategie»? Ja genau, diese bislang so verschlossenen Länder arbeiten daran, endlich vernünftige, bindende und hoffentlich auch klare Reiserichtlinien sowohl für die eigene Bevölkerung als auch für internationale Touristen auszuarbeiten. Hinter den Kulissen wird dafür stark lobbyiert. In den USA verspricht sich die Reisebranche einiges vom Impfplan von Joe Biden. Bereits macht der Begriff «revenge travel» die Runde - also das «jetzt aber mal richtig»-Reisen sobald möglich. Dieses Bedürfnis ist auch bei uns stark, aber noch nicht in ein Wort gefasst. Dennoch ist klar: Es braucht den «Break» aus dem Pandemie-dominierten Alltag und der Bedarf ist sehr gross, Neues zu entdecken, nachdem jeder Wanderweg in der Nähe inzwischen so wohlbekannt ist wie die eigenen vier Wände.
Gewiss, auch in der Schweizer Politik wird an Lösungen gearbeitet - aber halt in der behäbigen Schweizer Art. Und besonders schade: Diese Aufbruchstimmung, welche sich mancherorts langsam aber sicher zu Beginn des Frühlings bemerkbar macht, fehlt bei uns noch weitgehend. Am Sonntag ist Zeitumstellung, die Tage werden länger, der Sommerflugplan tritt in Kraft. Jetzt müsste es doch Zuversicht geben auf einen Sommer, der - natürlich mit einigen notwendigen Einschränkungen - genossen werden kann. Man kennt es aus der Psychologie: Ermutigung zeigt bessere Resultate als Verbot. Zuspruch ist nachhaltiger als Strafe.
Das Hüst und Hott der Politik hat aber zu einer riesigen Kluft in den Gesellschaften geführt, bei denen Randpositionen ins Zentrum rücken: Hier jene, welche Reisen aktuell als unverantwortlich und egoistisch taxieren, dort jene, welche schon fast trotzend verreisen und sich vor Ort keinen Deut mehr um Corona scheren. Beiden Positionen darf eigentlich weder medial noch politisch Platz gegeben werden. Und man dürfte eigentlich erwarten, dass gerade demokratische Politik einen feinen Mittelweg findet. Also eine Vorgehensweise, welche nicht das komplette öffentliche Leben lahmlegt, und trotzdem massvolle Beschränkungen durchzusetzen weiss.
Wer führt, muss nämlich Regeln durchsetzen. Diese müssen verständlich und konsequent sein. Doch wo stehen wir? Das Kontrollregime bei den Einreisen in die Schweiz ist lasch. Bussen für Verstösse, die in der Höhe nicht abschreckend sind. Regelungen, die löchrig sind («PCR-Testpflicht vor Reise in die Schweiz! Aber nur für Flugreisende! Ja, sie können schon auch einen Antigen-Test machen, dafür braucht es einfach eine Selbstdeklaration. Und den Test können Sie auch erst ausserhalb des Flughafens machen, ok...»). Quarantänelisten, welche der effektiven Situation immer hinterherhinken (oder kann uns jemand erklären, weshalb bei der Liste, die am 5. April in Kraft tritt, etwa Israel, Albanien oder die V.A.E. drauf sind, obwohl sie bereits jetzt nicht mehr die Risikoland-Kriterien des BAG erfüllen?). Chaos bei den Impfungen. Und doch wird immer noch die Reisebranche zumindest mitverantwortlich gemacht für das Auf und Ab der Infektionszahlen.
Wir als Reisebranche fordern von der Politik eigentlich nicht so viel. Wir wünschen uns dieses Jahr einfach Weihnachten bereits im Sommer. Also wenigstens die Aussicht auf ein wenig Geschäft zur Hauptreisezeit. Was es dafür braucht? Eine Politik, die internationale Mobilität ermöglicht, selbstverständlich mit der Auferlegung von Massnahmen, welche konsequent umzusetzen sind - aber eben immer noch vernünftige Möglichkeiten bietet. Also bitte nicht alle zwei Wochen die Torpfosten bewegen, sonst wird das nie ein Treffer. Schaffen Sie Zuversicht! Schaffen Sie Regeln, die soweit verständlich und akzeptabel sind, dass die breite Bevölkerung diese hinnimmt und freiwillig umsetzt und damit auch den ewiggestrigen Anti-Alles-Mitbürgern gleich die Argumente raubt. Reduzieren Sie die Corona-Bürokratie und hören Sie auf, generell vor Reisen zu warnen, und dies bitte vor dem nächsten Winter. Es braucht aber vor allem wieder «positive vibes» (das ist nicht respektlos und man darf auch gerne mal wieder dem Gesundheitspersonal abends zuklatschen). Und noch etwas: Gehen Sie mal wieder selber auf eine Reise. Sie werden merken, dass man die Welt danach immer etwas positiver sieht.