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Ist sich sicher, dass die Menschen bald wieder reisen werden: Jan Steiner, Brand Manager Engadin und Mitglied der Geschäftsleitung der Engadin St. Moritz Tourismus AG. Bild: ESTM

«Dank Erfahrungen aus der Pandemie werden wir uns weiterentwickeln»

Artur K. Vogel

Wie die Oberengadiner Dörfer die Pandemie meistern und welche Learnings aus der Krise hervorgehen, berichtet Jan Steiner, Brand Manager Engadin bei der ESTM AG, im Interview.

Im Januar machte St. Moritz weltweit Schlagzeilen, weil in zwei Fünfsternehotels Corona-Fälle mit mutierten Viren aufgetreten waren. Eines der betroffenen Hotels, das Badrutt’s Palace, hat seine Tore Ende Januar zumindest vorübergehend geschlossen. Doch St. Moritz scheint die Krise rasch gemeistert zu haben. Wie das gelungen ist, schildert Jan Steiner Brand Manager Engadin und Mitglied der Geschäftsleitung der Engadin St. Moritz Tourismus AG. Er kündigt im via Zoom geführten Interview zudem eine neue Marketing-Offensive an.

Herr Steiner, das Engadin und St. Moritz haben herausfordernde Tage hinter sich: In zwei Luxushotels brach die Pandemie aus. War Engadin St. Moritz auf diesen Ernstfall vorbereitet?

Jan Steiner: Ja, seit September haben wir eine touristische Corona-Taskforce aufgebaut. Diese hat 23 Szenarien entwickelt, die nun den Partnern zur Verfügung stehen. Solche Szenarien gehen von schlimmstmöglichen Ereignissen aus. Das eine oder andere ist nun leider eingetreten. St.Moritz hat ausserdem schon früh den Gemeinde-Führungsstab aktiviert. Und ich muss sagen, dass die Zusammenarbeit spielt und die elf Gemeinden unserer Destination die Arbeit ihrer Führungsstäbe sehr gut koordinieren.

Welche Rolle hat Ihre Tourismusorganisation bei der Bewältigung der Krise gespielt?

Die Impulse für die Koordination und das Zusammenfügen der Informationen und Entscheide kam von der Destination her. Diese spielt immer mehr die Rolle eines Bindegliedes zwischen den beteiligten Gemeinden und Organisationen. So wird ein zielgerichtetes, sachliches und effizientes Vorgehen gewährleistet.

Unter anderem wurden flächendeckende Tests bei Personal und Gästen durchgeführt. Haben sich diese bewährt, und führen Sie diese fort?

Es ist ganz wichtig zu wissen, dass wir es den zwei betroffenen Hotels, dem Palace und dem Grand Hotel des Bains Kempinski, zu verdanken haben, dass der Ausbruch so rasch bemerkt wurde. Beide haben ihre Angestellten fortwährend getestet, nicht auf Verordnung hin, sondern aus Eigenverantwortung für die Sicherheit der Gäste und der Angestellten. Das Palace verlangte zudem beim Einchecken einen negativen Covid-Test von jedem Gast. So wurde der Ausbruch früh entdeckt und konnte dank Quarantänemassnahmen an der Ausbreitung gehindert werden. Jetzt führen wir Flächentests durch. Und dabei kommt uns zugute, dass der Kanton Graubünden, der schon im Dezember in Südbünden flächendeckend testete, bereits Erfahrungen gesammelt hat. Dank diesen Faktoren konnten die Massnahmen speditiv und professionell umgesetzt werden.

«Zwei renommierte Betriebe in St. Moritz wegen Corona in Quarantäne – das hat für weltweites Aufsehen gesorgt.»

Wer kommt finanziell für die Tests auf?

Wenn Corona-Fälle auftreten, übernimmt das kantonale Gesundheitsamt den Lead; dann vergütet der Kanton die Kosten. Wer sich jetzt fakultativ testen lässt, z.B. Firmen, die Mitarbeitende und Kunden schützen wollen, müssen die Kosten von 8.50 Fr. pro Test selbst tragen. Einzelne Gemeinden sind aber bereits dazu übergegangen, Tests zu entschädigen. Wir hoffen, dass künftig der Kanton und der Bund einspringen.

Zwei Luxushotels schlossen nach dem Corona-Ausbruch die Tore: Das Carlton hat die Saison vorzeitig abgebrochen; das Palace ist zumindest vorübergehend geschlossen. Hat das zusätzliche Auswirkungen auf die Gesamtzahl der Gäste?

Ja, das hat eine grosse Auswirkung. Zwei renommierte Betriebe in St. Moritz wegen Corona in Quarantäne – das hat für weltweites Aufsehen gesorgt. Wir hatten das zwar, dank guter Kommunikation, rasch im Griff. Aber Unsicherheit herrschte trotzdem. Ich weiss, dass eines der beiden Hotels innert weniger Tage 70 Prozent der Buchungen für den Monat Februar verloren hat.

Wie sieht die bisherige Wintersaison überhaupt aus? Diverse Länder haben Restriktionen erlassen, welche Auslandreisen massiv erschweren. Um wie viel ist die Zahl der ausländischen Hotelgäste nach Ihren Schätzungen zurückgegangen?

Die Wintersaison 2019/20 war bis zum abrupten Lockdown eine der besten Saisons überhaupt. Deshalb kamen wir mit einem blauen Auge davon. In den Sommer 2020 starteten wir mit grossen Unsicherheiten. Das Resultat war dann ein Minus von 20 Prozent in St. Moritz und ein Plus von 20 Prozent im Engadin. Das Engadin war dank Schweizer Feriengästen sehr gut frequentiert; in St. Moritz fehlten die ausländischen Gäste. Die laufende Wintersaison ist sehr herausfordernd. St. Moritz wird vielleicht mit minus 30, vielleicht auch minus 40 Prozent abschliessen; vielleicht können wir noch etwas kompensieren. Auch das Engadin schreibt Minuszahlen, im Dezember 2020 rund zehn Prozent. Was uns aber besonders schmerzt, ist der fast völlige Wegfall des MICE-Bereichs. Das Engadin und besonders St. Moritz leben davon. Da werden uns sehr viele Logiernächte fehlen.

«Die Lage in der Gastronomie ist dramatisch; die Umsätze sind um bis zu 80 Prozent eingebrochen.»

Aber Sie klingen nicht so, als ob sie die Hände in den Schoss legen und sich dem Schicksal ergeben würden?

Nein, natürlich nicht. Wir lancieren diese Woche eine digitale Kampagne mit zusätzlichen Marketingmassnahmen. Diese heissen «Winter Enthusiast » für eine Kombination von Hotel und Skipass; «Winter Lover» für Leute, die nicht Skifahren, aber zum Beispiel Schneeschuh-Wandern; und «Winter Home Office». Wir haben diese Kampagne in kürzester Zeit auf die Beine gestellt, in nur drei Wochen von der Idee bis zur Realisierung. Und mindestens 30 Hotels beteiligen sich. Das macht mich stolz, weil ich sehe, wie stark und innovativ das Team ist, das wir in den vergangenen zwei Jahren aufgestellt haben.

Ferienwohnungen und Campingplätze gelten als Pandemie-taugliche Alternativen: Hat dort die Nachfrage angezogen?

Ferienwohnungen werden gut bis sehr gut nachgefragt. Einige sind für den kommenden Sommer bereits ausgebucht. Die fünf Campingplätze in unserer Region, die Wintercamping anbieten, verzeichnen ebenfalls eine rege Nachfrage.

Die Skigebiete bleiben zumindest im Moment geöffnet. Wie sieht die Auslastung dort aus?

Auch hier registrieren wir ein Minus von 30 bis 40 Prozent. Wir hoffen zwar, dass wir noch etwas aufholen können, aber die Aussichten sind eher düster. Dass der Kanton die Skigebiete als systemrelevant einschätzt und offenhält, ist aber erfreulich, damit man in diesen schwierigen Zeiten wenigstens Ferien und Freizeit geniessen kann. Die Bergbahnen unternehmen übrigens alles, damit wir sicher Skifahren können.

Restaurants hingegen dürfen nur noch Take-away anbieten. Gibt es Betriebe in Ihrer Region, deren Existenz deswegen ernsthaft gefährdet ist?

Von Konkursen in der Gastronomie ist mir konkret noch nichts bekannt. Aber die Lage ist dramatisch; die Umsätze sind um bis zu 80 Prozent eingebrochen. Dass viele innovative Partner trotzdem alles versuchen, um den Gästen doch noch etwas zu bieten, ist sehr positiv.

Was tun Gemeinden und der Kanton, um das Überleben der Gastbetriebe, wenn nicht zu sichern, so wenigstens zu erleichtern?

Graubünden ist sich seiner Rolle als Tourismuskanton bewusst. Wir sitzen alle im selben Boot. Deshalb handeln die Behörden pragmatisch. Zum Beispiel werden die Testkapazitäten ausgebaut. Die Gemeinden sind noch mehr zusammengerückt, praktizieren das Miteinander statt des Gegeneinanders.

«Wir wollen noch mehr junge Gäste ins Tal holen – auch via Tik Tok.»

Wie sind Ihre Prognosen für den kommenden Sommer?

Wir sind für den Sommer verhalten optimistisch und spielen diverse Szenarien durch: Was ist, wenn die meisten Schweizer geimpft sind? Reisen sie dann wieder ins Ausland, oder haben sie weiterhin Bedenken und machen Ferien im eigenen Land? Kommen die Ausländer zurück? Die Hotels im Engadin budgetieren 20 Prozent weniger Gäste als 2020; das sind aber immer noch zehn Prozent mehr als 2019. Ich sehe übrigens auch Chancen in der Krise: Wir machen gewaltige Fortschritte in der Digitalisierung. Homeoffice hat zur Folge, dass Leute im Engadin arbeiten können, die sonst pendeln müssen.

Wie sehen die Pläne der Engadiner Tourismusorganisation für die Sommersaison aus?

Letztes Jahr hatten wir «Wasser» zum Fokusthema gemacht, dieses Jahr ist es «Wald und Holz». Wir sind daran, wieder exklusive Übernachtungsmöglichkeiten auszutüfteln. Im Sommer 2020 boten wir die «Tiny House Gondel» an: schlafen auf dem Piz Nair auf 3000 Metern Höhe in einer ausrangierten Seilbahnkabine, die zum Kleinsthaus umgebaut worden war. Dabei erfuhren wir eindrücklich, dass solche Angebote nicht nur Marketing-Gags sind, sondern einem Gästebedürfnis entsprechen: Innert 48 Stunden war der ganze Sommer ausgebucht.

Wie kommt man zu solchen Ideen?

Ein gute Flasche Wein in guter Gesellschaft. An etwas anderes denken als man müsste; dann kommen die kreativen Ansätze. Die rechtlichen und ortsplanerischen Aspekte danach befördern dann das Ganze wieder in die Realität zurück.

Engadin St. Moritz ist ab März auch auf TikTok präsent. Inwiefern beeinflussen Social Media das Verhalten von Touristen? Und wie stellt sich das Engadin darauf ein?

Wir sind froh, dass wir uns auf TikTok lancieren können. Wir wollen noch mehr als bisher junge Gäste ins Tal holen. Und diese können am besten über Social Media angesprochen werden. Zudem bemühen wir uns um Events, die Junge ansprechen. So bewerben wir uns für die Freestyle-WM 2025, die ursprünglich in Russland geplant war. Der Entscheid fällt im Mai. Mit dieser WM könnten wir ein junges Publikum aus der ganzen Welt im Engadin begrüssen.

Es gibt Fachleute, die prophezeien, der Tourismus werde nie mehr derselbe sein wie vor der Pandemie. Sind Sie auch dieser Meinung, und wenn ja: Wie sehen Sie die Zukunft des Reisens?

Es ist sowieso alles in Bewegung. Stellen Sie sich vor, wie die Digitalisierung oder das Mobiltelefon unser Verhalten verändert hat! Ich bin sicher, dass die Menschen wieder reisen werden; das spüren wir in den Märkten. Die Corona-Pandemie hat uns zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg daran gehindert, alle Begehrlichkeiten sofort zu erfüllen. Doch diese sind weiterhin vorhanden. Vielleicht wird man etwas sensibler reisen, wird zweimal drei Wochen in die Ferien fahren statt zehnmal drei Tage.

Und was bedeutet das für die Destination Engadin?

Die Antwort haben Sie schon hundert Mal gehört, aber ich stehe dazu: Neben dem Fokus auf Digitalisierung sind wir der Nachhaltigkeit verpflichtet. Der internationale Gast wird zurückkommen, aber Touristiker haben verstanden, dass die Natur das wertvollste Gut ist, das man diesem anzubieten hat. Wir werden die Erfahrungen aus der Pandemie in Erinnerung behalten, um uns weiterzuentwickeln, um auch ohne Krise gemeinsam voranzugehen. Das macht uns als Ganzes stark.

Was haben Sie persönlich aus der Krise gelernt? Hat sich Ihr Verhalten – als Tourismus-Verantwortlicher ebenso wie als Tourist – verändert?

Ich habe einen starken Zusammenhalt im familiären Umfeld erlebt, auch durch das Homeoffice. Und mir ist bewusst geworden, wie privilegiert ich bin, dass ich diese wunderschöne Destination verkaufen und mitgestalten darf, und dass ich hier leben kann. Wir gehen weniger auf Reisen, dafür bewusster. Wir haben auch schon im Engadin in einem schönen Hotel übernachtet, einfach, um uns etwas Gutes zu tun.