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Travelnews-Verwaltungsrat Raphaël Surber lässt das Pandemie-Jahr mit dem Blick auf Asien Revue passieren. Bild: Adobe Stock

Mein 2020 Über persönliche Freiheit und Solidarität

Raphaël Surber

Für die meisten von uns scheint die Welt in den letzten zwölf Monaten viel kleiner geworden zu sein. Doch zeigt sich nicht gerade in dieser beispiellosen, weltweiten Krise, dass wir eben doch ein globales Dorf sind? Ein Blick zurück und die Frage, was wir von Asien hätten lernen können.

Natürlich waren Reisen geplant. Und was für welche. Als erstes stand Japan und Korea auf dem Plan, die Flüge und Hotels waren gebucht, der Reiseplan so gut wie fertiggestellt. Das war im Januar, drei Monate vor Abreise. Erste Meldungen von einer seltsamen Lungenkrankheit aus China machten die Runde.

Gemach, haben wir uns gesagt. Und erstmal die Reise verschoben. Und dann nochmals. Im Frühling haben wir die Reise schliesslich ganz abgesagt. Und alle anderen Pläne waren auch futsch. Die seltsame Lungenkrankheit aus China hatte jetzt einen Namen und die ganze Welt sprach von nichts anderem mehr.

Über Monate verfolgten wir aufmerksam die Entwicklung weltweit und natürlich vor allem in Asien. Dort schien man – allgemein gesprochen – die Sache recht gut im Griff zu haben. Konnte man darauf hoffen, dass sie den Schlüssel zur Eindämmung der Pandemie bereits gefunden hatten? Die Zahlen in Japan und vor allem in Südkorea waren ebenfalls vielversprechend, und so blieb stets ein kleiner Funke Hoffnung bestehen. Laos und Kambodscha, beides weitere geplante Ziele für 2020, hatten sogar fast keine Fälle (in Laos zählte man bis Weihnachten 41, in Kambodscha 363 Fälle).

Während Franzosen und Engländer ihre Häuser nicht verlassen durften, ausser für notwendige Arbeiten, aus medizinischen Gründen oder zum Lebensmitteleinkauf, besuchten Südkoreaner Restaurants, sangen Karaoke und tranken in Bars. Und während ein westliches Land nach dem anderen damit kämpft, sich von der schlimmsten Rezession aller Zeiten zu erholen, erwartet Taiwan, das Jahr 2020 wirtschaftlich unbeschadet zu beenden.

Dabei setzten die asiatischen Länder auf unterschiedliche Konzepte in der Bewältigung der grössten globalen Krise der jüngsten Geschichte. Diese reichten von kompletter Abschottung und strengen Lockdowns über progressive Aufklärung bis hin zu lückenlosem, speditivem (und vor allem datengestütztem) Contact Tracing kombiniert mit effizienten Massentests. Natürlich gibt es auch in Asien Ausnahmen. Doch die Frage bleibt:

Hätte man von den Asiaten lernen können? Und wenn ja, was?

Die Maskenpflicht etwa. Nicht erst seit Corona trägt vor allem in ost- und südostasiatischen Staaten Maske, wer krank ist und andere nicht anstecken möchte. Eine überaus probate Massnahme. Oder gezieltes und aggressives Contact Tracing bei gleichzeitigen Massentests von Clustern? Viele asiatische Länder haben so, begleitet von kontrollierten Quarantäne-Bestimmungen, aufkeimende Infektionsherde schnell kontrollieren können. Temperaturchecks an neuralgischen Punkten, etwa an Flughäfen? Längst Standard in vielen asiatischen Ländern.

Fakt ist, dass viele Länder Asiens ihre Lehren aus vergangenen Epidemien (SARS, MERS) und auch aus der aktuellen Corona-Pandemie gezogen und gehandelt haben. Derweil man in der Schweiz, und auch in anderen Ländern Europas dem Grundsatz nachzuhängen scheint, dass wer nichts aus der Geschichte lernt, verdammt ist, sie zu wiederholen. Oder wie es Jeremy Rossman, Dozent für Virologie an der Universität von Kent in einem Artikel der South China Morning Post sagte: «Die meisten Länder scheinen ihren eigenen Ansatz zu verfolgen und wenig vom Erfolg anderer Länder zu lernen und sich anzupassen. Warum eine Änderung der Politik jetzt nicht in Betracht gezogen wird, ist schwer zu sagen.»

Wer braucht schon eine klare Strategie, wenn er ein Faxgerät hat

Wochenlang zog sich der Streit über die Wirksamkeit von Masken dahin, und wirkt bis heute nach. Und ein vernünftiges, datenbankgestütztes (schweizweites) Contact Tracing existiert bis heute nicht. Kein grandioser Leistungsausweis eines Landes, das weltweit zu den innovativsten zählen soll. Möglicherweise geblendet von den scheinbaren Erfolgen während der ersten Welle gab man sich siegessicher und fiel prompt in die übliche Gewohnheit parteipolitischer Profilierung und der Beschwörung des Kantönligeists zurück. Das Resultat kennen wir.

Invasive, strenge Massnahmen, wie sie in gewissen Ländern Asiens durchgesetzt wurden, sind in der Schweiz nur bedingt denk- oder wünschbar. Allerdings kann man durchaus darüber diskutieren, wodurch die persönliche Freiheit, die man hierzulande derart hochhält, am Ende mehr eingeschränkt wird.

Wenn jeder zu sich selber schaut, ist für alle geschaut? Eher nicht.

Die Geduld und die Fähigkeit, Einschränkungen hinzunehmen und zum Wohle der Gesamtheit zu ertragen, Verzicht und Demut – aber auch der Mut zu entschlossenem und schnellem Handeln, das ist vielen asiatischen Gesellschaften eigen. Meine grösste Erkenntnis aus der Betrachtung des unterschiedlichen Umgangs mit Corona ist daher, dass uns Corona die Grenzen und Unzulänglichkeiten unserer individualistischen Gesellschaft vor Augen führt.

Die vielbeschworene Medaille der Eigenverantwortung hat eben zwei Seiten – die Verantwortung für sich selber, und die Verantwortung gegenüber anderen. Ersteres darf man sicher von jedem verlangen, Zweiteres allerdings überfordert viele Menschen. Das ist nicht weiter tragisch, aber der Staat hat – oder sollte – hier durchaus ein Interesse haben, dirigierend einzugreifen. Dazu gehört nicht nur eine klare und transparente Kommunikation und umfassende, permanente Aufklärung, sondern auch, die Bürgerinnen und Bürger bis zu einem gewissen Masse vor sich selbst zu schützen.

Natürlich ist sich in der Krise jeder selbst der Nächste. Doch der Grundsatz «Die Freiheit des einen hört bei der Freiheit des anderen auf» sollte uns vor Augen führen, dass wir Teil eines wie auch immer gearteten Kollektivs sind und uns in Zeiten wie diesen nicht krampfhaft an irgendwelchen individualisierten Vorstellungen von persönlicher Freiheit festklammern sollten.

Globalisieren wir Solidarität

Es wäre begrüssenswert, wenn die Corona-Pandemie dazu führen könnte, sich Gedanken über eine neue Solidarität zu machen. Gemeint ist nicht, höflich vom Balkon herunter fürs Gesundheitspersonal zu klatschen oder für Senioren den Wocheneinkauf zu erledigen. Gemeint ist auch nicht bloss eine schweizweite Solidarität, sondern eine, die weit darüber hinaus geht.

Eine, die ermöglicht, dass wir uns zusammenraufen, um gemeinsam ein (tatsächlich) globales Problem zu lösen. Dass eher kollektivistisch strukturiere asiatische Gesellschaften hier im Vorteil sind, scheint mir augenscheinlich. Vielleicht können wir uns davon ja eine Scheibe abschneiden.

Trotz aller Frustration über 2020 freue ich mich heute aber darauf, in nicht allzu ferner Zukunft wieder viele Menschen zu treffen, hüben wie drüben. Vielleicht schon 2021. Vielleicht werden wir dann auf diese Zeit zurückblicken und uns gemeinsam darüber freuen, dass wir es überstanden haben. Und vielleicht verbindet uns das auch auf einer völlig neuen Ebene.