Destinationen

Auf der Piazza del Duomo in Florenz: Eine Stadt versinkt in den Touristenmassen. Bild: JCR

Einwurf Die Diagnose lautet Tourismusdepression

Vanessa Bay

Ein Tagesausflug mitten in die Touristenmassen von Florenz hat unsere Autorin mehr als nachdenklich gestimmt – Tourismusprofi Vanessa Bay schreibt, dass Reisen wieder etwas Besonderes werden muss.

Seit Beginn meiner beruflichen Laufbahn schlägt mein Herz für den Tourismus. Mit Überzeugung und Kraft – der Motor meiner Arbeit. Doch seit der SRV-Generalversammlung 2018 kann ich nicht mehr ignorieren, dass dieses Herz unter Rhythmusstörungen leidet. Der medizinische Fachausdruck: Overtourism.

Das ist nicht eine Modekrankheit, es ist eine Epidemie. Wenn wir nichts dagegen unternehmen, ruinieren wir mit unserem Geschäft die Basis unseres Geschäfts. Damit meine ich nicht nur das Ökonomische, sondern das, was für mein Herz das Entscheidende an dieser Branche war (und hoffentlich wieder wird): Reisen, das Freude macht, das bereichert, das Gastfreundschaft bedeutet und Menschen der Welt gegenüber offener werden lässt.

Die Tagesausflüge nach Rom und Florenz im Rahmen der SRV-Reise haben den Verbandsmitgliedern die unschöne Kehrseite des heutigen Tourismus vor Augen geführt. Nicht nur wer sich einer geführten Gruppe anschloss, sondern auch alle, die sich individuell versuchten: Alle wurden Teil einer Masse, die das Gleiche anstrebt und es sich damit selbst kaputt macht.

In Florenz wurde unsere Gruppe durch die Stadt geschleust wie ein Rindertrail. Die Einheimischen waren verständlicherweise fast aggressiv (was ich umgekehrt ebenso gut kenne, wenn ich mich in Luzern durch chinesische Horden vor dem Bucherer Richtung Bahnhof durchkämpfe). Wir haben in einem Restaurant gegessen, wo uns – ebenso wie unzähligen anderen Reisenden – das Essen total unpersönlich serviert wurde. Von der «buona cucina italiana» keine Rede, nach 49 Minuten und 30 Sekunden waren wir draussen, und es wurde für unsere Nachfolger aufgetischt. Sie hatten mein Mitleid.

Nach der Essensabfertigung noch kurz in einen Shop? Vergiss es. Überall Menschengedränge. Zurück und in eine Nebenstrasse abbiegen? Zu knapp – die Massen zwischen Dom, Uffizien und Vecchio-Brücke würden eine pünktliche Rückkehr zum Bus verunmöglichen. Zudem hat meine Depression schon jegliche Lust auf individuelles «durch die Gassen bummeln» gekillt.

«Der Erlebniswert ist unter Null»

Unter solchen Bedingungen macht Reisen keinen Spass mehr. Der Erlebniswert liegt unter Null. Es hat mir – die ich kaum je so unterwegs bin – derart abgelöscht, dass ich in eine veritable Tourismusdepression verfallen bin. Nicht gerade das, was man sich im Berufsleben in unserer Branche wünscht.

Selbstverständlich kann man sagen: Für SRV-Mitglieder ist so etwas lehrreich, und die Abertausenden von «richtigen» Touristen sind selbst schuld. Man weiss ja schliesslich, was man mit einer Städtereise bucht. Wer sich also eine solche Depression ersparen will, der soll sie meiden. Ein solches neoliberales Eigenverantwortungs-Geschwätz aber genügt mir nicht. Wir haben als Branche eine Verantwortung. Und diese müssen wir aktiv wahrnehmen.

Wenn wir das nicht tun, fahren wir die Branche an die Wand. Die Schweizer Weinbauern haben unendlich lange gebraucht, um zu kapieren, dass ihr Geschäft nur eine Zukunft hat, wenn sie weniger produzieren. Mengenbeschränkung ist die Basis von Qualität beim Wein, und Qualität ist die Basis des Erfolgs von Winzern. Die Weinbauern haben das erst kurz vor ihrem Untergang begriffen. Inzwischen blühen sie.

Wir haben das Analoge für unsere Branche noch keineswegs begriffen. Wir sehen nur den Verkaufsfranken, den wir heute einnehmen können. Ob wir uns damit das Geschäft von morgen versauen, kümmert uns nicht. Oder, um etwas fairer zu sei: Unsere Angst davor, Mengenbeschränkung könnte unser Schaden sein, ist grösser als die Zuversicht, dass mehr Qualität letztlich auch zu unserem Nutzen sein kann.

«Zuerst braucht es eine Krankheitseinsicht»

Natürlich habe ich keine pfannenfertige Lösung für unsere Branche parat. Deswegen aber das Problem nicht beim Namen zu nennen, entspräche der Reife von Kleinkindern, die die Hände vor die Augen halten und fröhlich rufen: «Gäu, du gsesch mi nid!»

Bevor man eine Therapie suchen, finden und applizieren kann, braucht es Krankheitseinsicht. Diese wird nur möglich sein, wenn wir Branchenprofis uns gemeinsam auf eine Vorstellung davon einigen, welchen Tourismus wir kultivieren wollen. Es geht nicht darum, Pauschaltourismus oder Städtereisen zu verteufeln. Sie sind nicht per se schlecht – ganz und gar nicht. Ebenso wenig, wie Individualtourismus einfach gut ist: Airbnb etwa kann grossräumig Einheimische aus Stadtzentren vertreiben, und die Individualtouristen finden sich plötzlich in einem Touristenghetto wieder, das letztlich jede Stadt gleich aussehen lässt.

Reisen muss wieder etwas Besonderes werden. Reisen ist kein Menschenrecht. Es ist wie bei der Gastfreundschaft: Man hat keinerlei Anspruch darauf, aber man freut sich, wenn man sie erfährt. Wenn alle gleichzeitig die Gastfreundschaft aller beanspruchen, dann bricht alles zusammen – und niemand hat mehr etwas davon. Es geht bei meinem Plädoyer für Mengenbeschränkung im Tourismus daher auch nicht nur um Ökologie, sondern darum, nicht selbst die Grundlage unserer Branchenexistenz mutwillig zu zerstören.

«Es geht darum, Reisen und Tourismus wieder zu etwas Besonderem zu machen»

Wir können individuell Zeichen setzen. Privat habe ich selbst dafür seit Jahren meine Linie: Ausserhalb beruflicher Notwendigkeiten fliege ich sehr selten – möglichst gar nicht. Ich meide touristische Musts – so genannte Sehenswürdigkeiten sind ja fast ausnahmslos touristisch so verschandelt, dass nichts mehr daran sehenswürdig ist. Aber das ist bloss meine private Einstellung, und ich möchte sie niemandem vorschreiben. Zumal es kein «richtig» oder «falsch» gibt. Der eine fliegt privat vielleicht öfters, bewegt sich aber am Ferienziel auf eine verträglichere Art. Oder ein Kreuzfahrten-Fan macht alle zwei Jahre solche Ferien – und bleibt sonst in der Schweiz. Alles ist besser, als einfach im gleichen Tempo weiter geradeaus zu fahren.

Aber als Branche sollten wir handeln. Wir müssen eine Diskussion in Gang bringen. Wir dürfen unsere Augen nicht vor dem Problem verschliessen. Wir dürfen es auch nicht fatalistisch als «ist eben so» hinnehmen. Es geht darum, Reisen und Tourismus wieder zu etwas Besonderem zu machen – etwas, das die Menschen schätzen, weil es sie bereichert. Ich bin zudem überzeugt, dass man auch als Unternehmen in der Branche Zeichen setzen kann. Das bedeutet nicht, den Sinn und Zweck eines Reisebüros über den Haufen zu werfen. Aber bestimmt gibt es in jedem Unternehmen eine Möglichkeit, etwas gegen den weiteren Verfall zu unternehmen. Sei es auch nur, mit dem Team zu besprechen, ob und was man selber dazu beitragen kann. Über kritische Reiseziele diskutieren. Den Mut aufbringen, Kunden zu sensibilisieren. Zweitziele vorschlagen. Lucca statt Florenz. Les Halles de Dijon anstatt Eiffelturm Paris …

Und ja, ich weiss: Es ist einfacher gesagt als getan. Das macht auch die Verzweiflung so stark. Ich wünsche mir einfach, dass mein Tourismus-Herz irgendwann wieder zum Normal-Takt findet.