Cruise

Die Ferienformel Kreuzfahrten sorgt regelmässig für Kritik. Im Travelnews-Interview kommen die Probleme und Baustellen der Branche zur Sprache. Bild: Thomas P. Illes

Was sagen Sie zum Vorwurf der «fahrenden Plattenbauten»?

Gregor Waser

Der Wirtschaftsberater und Hochschuldozent Thomas P. Illes beschäftigt sich seit 30 Jahren intensiv mit der Hochseetouristik. Im ausführlichen Interview mit Travelnews äussert er sich zur Kritik an der Kreuzfahrtindustrie, sagt was Reedereien und Reisebüros künftig besser machen müssen und skizziert, wie sich die Pandemie auf die Cruise-Zukunft auswirken könnte.

Herr Illes, das Image der Kreuzfahrten ist eng verbunden mit einem weitgehend negativen Image des Massentourismus. Was sind Ihre Gedanken dazu, als Wirtschafts- und Kommunikationsberater mit engem Bezug zu Kreuzfahrten?

Thomas P. Illes: Vielleicht gilt es zunächst einmal festzuhalten, dass Reisen schon längst auch zu einem Statussymbol und Leistungsausweis für Bildung, Niveau, finanzielle Potenz und vorzeigbar-individuellen Lebensstil geworden sind. Etwa im Sinne von «Sag mir, wie oder wohin du reist, und ich sage dir, wer du bist». Vor allem aber beobachte ich, dass sich immer mehr Menschen fast schon zwanghaft und reflexartig von jeglicher Anrüchigkeit des Massentourismus distanzieren wollen. Hier die oberflächlich-dekadente Kreuzfahrt für den naiv-einfachen Mob, dort die Iranrundreise für den kultiviert-offenen Weltbürger. Solche Stereotypen greifen für mich zu kurz.

Übertreiben Sie da nicht?

Ich glaube nicht. Nehmen Sie zum Beispiel die Aussage des von mir sonst hoch geschätzten Soziologen Harald Welzer: er betitelt Kreuzfahrtschiffe als «fahrende Plattenbauten, in denen man zusammengepfercht mit 8000 Leute Richtung Nordpol schippert». Und er fragt, wie es denn möglich sei, dass sich auch immer mehr jüngere Leute für eine Reiseform begeistern, die sich «vor 20 Jahren nur englische Omas angetan hätten». Solche unqualifizierte Pauschalbwertungen machen mich regelmässig ziemlich sprachlos. Vor allem wenn sie von akademisch gebildeten Leuten kommen, zu deren Beruf es eigentlich gehören würde, differenziertere Denkweisen aufzuzeigen.

War auch an der diesjährigen ITB Now als Moderator tätig: Thomas P. Illes, Wirtschafts- und Kommunikationsberater mit internationalem Renommee. Bild: Messe Berlin GmbH

Aber könnte man das nicht so sehen beziehungsweise sehen das nicht viele andere Leute ebenso?

Erfahrene Kreuzfahrer sehen das bestimmt nicht so. Eher Leute, die noch nie eine Kreuzfahrt gemacht haben und an ihren Vorurteilen festhalten wollen, um ihrer Sehnsucht nach einem vereinfachten Weltbild nachzugehen und weiterhin auf Stammtischniveau herumpoltern zu können. Viele Leute mögen solche Rundumschläge. Einem Faktencheck halten sie dennoch nur bedingt stand.

Wo würden Sie widersprechen?

Zum einen erscheint mir die zum Ausdruck gebrachte Einstellung älteren Menschen gegenüber respektlos und diskriminierend. Zudem besteht die Kreuzfahrtflotte nicht nur aus «Plattenbauten für mehrere Tausend Passagiere», sondern auch aus zahlreichen kleineren und exklusiveren Schiffen mit überproportional viel Platz und überschaubarer Gästezahl. Auch das ist erfahrenen Kreuzfahrern bekannt. In der breiten Öffentlichkeit werden diese Unterschiede aber nach wie vor zu selten und Kreuzfahrten fälschlicherweise immer noch undifferenziert als eine einzige Einheit wahrgenommen. Kreuzfahrten hätten zudem kaum so viele Anhänger, wenn diese tatsächlich «zusammengepfercht herumschippern» müssten. Würde man solche Äusserungen für bare Münze nehmen, müsste man sich ernsthaft fragen, ob denn alle, vor allem auch jüngere Kreuzfahrtanhänger bemitleidenswerte, unmündige und verantwortungslose Vollidioten seien.

Bestand oder besteht denn der Trend weiterhin, dass sich auch immer mehr jüngere Menschen unter den Kreuzfahrtfans finden?

Absolut. Und diese Menschen wurden ja nicht an Bord geprügelt, sondern wählten und wählen ihre Ferienform aufgrund sie überzeugender Angebote freiwillig. Man mag die Einstellung, Bedürfnisse und Werte von Menschen, die ihr Ferienglück vor Corona beispielsweise auf einer Partycruise im Mittelmeer  suchten mögen oder nicht. Aber Freizeit-, Unterhaltungs- und Kompensationsbedürfnisse solcher Art verbunden mit dem Wunsch abzuschalten, den Alltag hinter sich zu lassen, nach sozialen Kontakten, Ausgelassenheit, Entspannung und dem kollektiven Ausleben von Sehnsüchten in einer als inspirierend empfundenen Umgebung sind – gerade auch jetzt während der Pandemie – omnipräsent. Die einen brauchen dazu den Trubel in einem Resort oder auf einem Schiff, andere die Ruhe eines Waldspaziergangs. Dieses Phänomen beschränkt sich also nicht auf Kreuzfahrten, sondern ist eine der Grundsäulen der gesamten Tourismus-, Reise- und Freizeitindustrie, welche seit jeher auf das Generieren und Verkaufen von Träumen basiert. Viele Leute haben zudem schon lange für sich entdeckt, dass man die Schönheiten, Vielfalt und Dynamik des Meeres auf einem Schiff oft viel eindrücklicher als an der Küste zu erfahren vermag.

Die einen brauchen zur Entspannung den Trubel in einem Resort oder auf einem Schiff, andere die Ruhe eines Waldspaziergangs. Bild: Thomas P. Illes

Wollen denn Kreuzfahrer wirklich in erster Linie das Meer erleben? Steht ihnen der Sinn nicht eher eben nach Party, Sun & Fun?

Das kommt stark auf die persönlichen Prioritäten, aber auch auf das Schiff selbst an. Je nach Schiffstyp und Art der Kreuzfahrt spielen die Unterhaltung an Bord oder Naturerlebnisse und die Destinationen die Hauptrolle. Letzteres ist auch mein primäres Interesse. Das Meer berührt aber fast alle Menschen, die ihre Ferien auf einem Schiff verbringen. Auch das Auslaufen von einem Hafen lässt die wenigsten kalt, manche rührt es regelmässig zu Tränen. Diese emotionale Komponente ist sicher einer der weiteren Gründe, weshalb sich Kreuzfahrten vor Corona zu einem der beliebtesten und am schnellsten wachsenden Tourismuszweige mit überdurchschnittlich hohen Zufriedenheitsraten und Repeaterquoten entwickelten. Wenn man es selber nicht erlebt hat, kann man es sich aber vielleicht auch nicht vorstellen und weiterhin auf besagte Vorurteile beharren. Hier stünden die Reedereien, aber auch Reisebüros definitiv vermehrt in der Pflicht.

Was genau meinen Sie damit?

Eine der wichtigsten Aufgaben war es schon immer, die richtigen Leute aufs richtige Schiff zu bringen. Das klappte oftmals nur suboptimal. Denn eben: Kreuzfahrten sind keinesfalls alle gleich und ein entsprechend komplexes und erklärungsbedürftiges Produkt - da gibt es enorme Unterschiede und eine riesige Bandbreite. Genauso wenig gibt es «den» Kreuzfahrer» oder «die» Kreuzfahrerin. Und man möge es mir bitte nachsehen, aber ich bin mir nicht so sicher, ob es zum Beispiel eine wirklich gute und branchenfreundliche Idee war, 2018 die SRV GV mit etlichen First Time Cruisern und manchen eher kreuzfahrtkritischen Mitgliedern ausgerechnet auf einem Mainstreamschiff à la AIDAprima und dann erst noch im herbststürmischen Mittelmeer durchzuführen. Prompt wurde danach wieder Kritik laut, die man mit ergänzenden kommunikativen und programmtechnischen Anpassungen hätte vermeiden können. Aber auch auf PEP-, Studien- oder Pressereisen passieren immer wieder Fehler und Unterlassungen, welche so essentiellen Themen wie dem Einplanen wichtiger und erkenntnisreicher Programmpunkte unter optimierten Rahmenbedingungen, Reputationsmanagement, Krisenkommunikation oder wirkungsvolle Verkaufsförderung zu wenig Rechnung tragen und dem Ruf der Branche mehr schaden als nützen.

«Die korrekte Beratung seitens guten und kompetenten Reisebüros wird noch wichtiger.»

Verkaufen sich die Reedereien hier Ihrer Meinung nach zu schlecht?

Viele Reedereien und touristischen Leistungsträger sind sich des diesbezüglich nach wie vor grossen Verbesserungspotenzials oft noch zu wenig bewusst. Zugegeben: die Umsetzung eines auf solche spezifischen Bedürfnisse hin optimierten Programmablaufs ist angesichts der zahlreichen Schnittstellenproblematiken zwischen der Besatzung an Bord, den einzuhaltenden Sicherheitsvorschriften sowie den diversen Anspruchsgruppen an Land herausfordernd. Aber zu schaffen, wenn man sich mit den speziellen maritimen Rahmenbedingungen auskennt und diese grossflächig mit einbezieht. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Vorbereitungsarbeit und der Koordinierungsaufwand meiner Schulungs- und Führungsseminare auf Schiffen, beispielsweise für das BZLU Bildungszentrum Luzern  einen Grossteil des Arbeitspensums ausmachen.

Wenn dereinst, was wir ja alle hoffen, wieder mehr gereist werden kann: muss Ihrer Meinung nach auch die Beratung in den Reisebüros besser werden?

Keine Frage - die korrekte Beratung seitens guten und kompetenten Reisebüros wird noch wichtiger, wenn nicht gar zur Überlebensfrage des stationären Vertriebs werden. Das war bereits vor Corona so, und entsprechend setzte eine Strukturbereinigung schon lange vor der Pandemie ein. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich ein möglichst grosser Teil der Reisebüroszene bis zum Zeitpunkt einer besseren Beherrschbarkeit der Pandemie wirtschaftlich halten und danach ihrer Beratungsfunktion angesichts einer wohl noch länger andauernden zunehmenden Komplexität des Reisens gerecht werden oder diese weiter ausbauen kann. Auch das gilt nicht nur für Kreuzfahrten, sondern für viele andere touristische Produkte ebenso.

Und was müssten die Reedereien sonst noch besser machen?

Im Moment finden zu einer sehr breiten Palette von Themen intensive Gespräche statt. Allen voran natürlich, wie der sichere und wirtschaftlich vertretbare Neustart von Kreuzfahrten unter Pandemiebedingungen gelingen kann. Damit zusammenhängend besteht aber auch Diskussionsbedarf für angepasste Businessmodelle und Vertriebsstrukturen, neue Routings und Destinationen, beim Überdenken der Qualitätssegmentierung und Preispolitik bis hin zu optimierten Schiffsdesigns in Sachen Hygiene- und Sicherheitsmassnahmen. Essentiell erscheinen mir vor allem auch weitere, substantielle und schnellere Fortschritte in der Umwelt- und Nachhaltigkeitsbilanz, das kritische Hinterfragen und Durchleuchten der Wertschöpfungskette unter vermehrter Einbindung und Gewinnpartizipation der Lokalbevölkerung in den einzelnen Destinationen sowie eine verbesserte und transparentere, auf langfristigen Vertrauensaufbau und -erhalt ausgelegte Kommunikation. Themen wie Digitalisierung, Blockchain und Ausbildung sind weitere Schwerpunkte.

Thomas P. Illes doziert unter anderem am BZLU Bildungszentrum Luzern. Bild: BZLU Luzern

Ist die Pandemie Ihrer Meinung nach für solche Veränderungsprozesse eher förderlich oder hinderlich?

Corona hat vieles ausgelöst. Der Pandemie wird oft auch die Funktion eines Nachhaltigkeitsbeschleunigers bzw. Brennglases für bereits länger bestehende Probleme zugeschrieben, und sie scheint tatsächlich etliche Entwicklungen zu forcieren. Wie nachhaltig das letztlich alles sein wird, bleibt abzuwarten. Wenn ich an das nun gerade wieder explodierende Angebot an Billigflügen nach Mallorca denke, kommen mir da Zweifel. Corona beschert uns aber auch ein riesiges Experiment: Lange Zeit stöhnten manche Hotspots über Overtourism. Nun haben wir einen quasi über Nacht eingetretenen Undertourism. Es wird spannend sein zu beobachten, welche Destinationen und Regionen die Rückkehr der Schiffe sehnlichst erwarten und welche die Pause nutzen, um touristische Alternativen abseits des Kreuzfahrttourismus zu entwickeln, von denen sie sich mehr Nachhaltigkeit versprechen. Ohnehin müssen wir uns vielleicht fragen, wie viel grenzenlose Demokratisierung oder «Ikeasierung» des Reisens als Folge immer billigerer Preise wir zukünftig noch als tragbar erachten werden. Inwieweit also die Pandemie unser Konsum- und Reiseverhalten im Zuge der Klima- und Nachhaltigkeitsdebatte beeinflussen oder verändern wird, wird sich weisen müssen. Hier spielen natürlich auch die weltweiten Arbeitsbedingungen im Tourismus eine wichtige Rolle, welche oft nicht zu den Besten gehören. Aber es sind Jobs, welche die Existenzgrundlage für Millionen von Menschen sichern.

In der Tat: mit den Arbeitsbedingungen auf Kreuzfahrtschiffen steht es nicht zum Besten...

Machen wir uns nichts vor: das Wachstum des weltweiten Tourismus, so wie wir das vor der Pandemie kannten sowie der Wohlstand in unseren Industrienationen beruhen im Wesentlichen auf das Ausnutzen eines extremen Ungleichgewichts zwischen Arm und Reich. Und das nicht nur im fernen Ausland. Kürzlich war zum Beispiel der Presse zu entnehmen, dass gewisse Flugbegleiter der Edelweiss nach den kurzarbeitsbedingten Lohneinbussen ohne finanziellen Zustupf ihrer Eltern nicht mehr über die Runden kämen. Existenzsichernd ist das nicht mehr - aber wir wollen alle billig herumfliegen! Da müsste man doch eigentlich auch laut herausschreien: Gahts eigentli no ...?

«Wie sonst sollten 4- oder gar 5-Sterne-All-Inclusive-Hotelferien für wenige hundert Franken pro Woche angeboten werden können?»

Aber die Arbeitsbedingungen auf Kreuzfahrtschiffen für gewisse Besatzungskategorien scheinen doch noch um einiges härter als in der Schweizer Touristik und Gastronomie zu sein?

In der Regel ja. Kreuzfahrtunternehmen sind global agierende Konglomerate mit Zugang zu, abhängig von der Art der zu erfüllenden Aufgabe, billigen Arbeitskräften mit langen und strengen Arbeitszeiten, wie sie hierzulande - glücklicherweise - nie und nimmer durchzusetzen wären. Aber zum Beispiel in beliebten Ferienregionen wie Thailand, Ägypten oder der Südtürkei – das ist dort nicht anders als auf Schiffen. Wie sonst sollten 4- oder gar 5-Sterne-All-Inclusive-Hotelferien für wenige hundert Franken pro Woche angeboten werden können? Ausser den Offizieren und Führungskräften stammt die grosse Mehrheit der Crews auf Kreuzfahrtschiffen ebenfalls aus Schwellen- oder Drittweltländern. Wobei die Cruise Industrie noch vergleichsweise gut dasteht.

Inwiefern?

Vielen dieser Mitarbeiter eröffnen sich Chancen und Perspektiven, die in ihren Heimatländern inexistent sind. Die Schifffahrt ist generell ein sehr wichtiger globaler Arbeitsgeber. Schauen Sie sich aber mal die Arbeitsbedingungen zum Beispiel auf einem vietnamesischen Fischtrawler an: hier herrschen mitunter wirklich menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in Form von Sklaverei, physischer Gewalt, Hunger, Mord, usw. Diese Menschen stecken zum Teil Jahre auf diesen Schiffen in dreckigen Unterkünften, zum Teil ohne eigenes Bett und mit fehlenden oder kaputten sanitären Anlagen fest und arbeiten ohne Bezahlung sieben Tage die Woche bis zu 20 Stunden am Tag. Den Fisch wollen und essen wir trotzdem! Auf modernen Fracht- und Passagierschiffen sind solche Verhältnisse zum Glück undenkbar.

In Ihren Publikationen und Referaten zitieren Sie auch immer wieder mal Leute wie den Philosophen Richard David Precht, der mit Aussagen wie «man müsse diese Billigkreuzfahrten verbieten» von sich reden macht. Hat Precht Unrecht?

In der Stossrichtung, die Klimaerwärmung ernst zu nehmen und Massnahmen zu deren Eindämmung zu fordern, hat Precht sicher Recht. Aber seine Aussage ist nicht zu Ende gedacht. Würde man Kreuzfahrten mit ihrer Innovationskraft abschaffen, sähe sich unter Umständen die gesamte Schifffahrt wesentlichen Impulsen beraubt, umweltfreundlicher zu werden. Das gesteht mittlerweile auch der bislang so kreuzfahrtkritische Naturschutzbund Deutschland NABU ein, der befürchtet, dass der Branche aufgrund der momentan immensen finanziellen Probleme das Geld fehlen könnte, um hier auch weiterhin in nötige Zukunftstechnologien zu investieren. Natürlich werden nicht alle Herausforderungen der Welt ausschliesslich mit immer neuer Technologie zu lösen sein – Verzicht ist auch eine Option. Wer aber ausgerechnet Billigkreuzfahrten mit ihren in diesem Marktsegment vornehmlich eingesetzten grossen, aufgrund ihren ökonomischen Skaleneffekten vor Corona hochprofitablen Schiffe verbieten will, entzieht womöglich der gesamten Schifffahrt wertvolle Entwicklungsgrundlagen Richtung mehr Nachhaltigkeit. Das dürfte kaum im Sinne von Herrn Precht sein. Es sei denn, er würde die gesamte Schifffahrt abschaffen wollen. Wo kämen dann aber seine schicken Sneakers, Anzüge, Hemden oder sein Handy und vieles andere beziehungsweise die dafür benötigten Rohstoffe her?

Auf einem grossen Passagierschiff müssen bis zu knapp dreitausend Crewmitglieder aus bis zu achtzig Nationen autark und ohne unmittelbare Landanbindung zusammenarbeiten können. Bild: Thomas P. Illes

Sie beraten eine Fülle von internationalen Firmen und Führungskräften – sind in der Wirtschaft solche relativierenden, zuweilen recht komplexen Denkansätze gefragt?

Immer mehr. Die Welt wird ja auch zunehmend komplexer und nicht einfacher. Berater sind Sie zudem nicht primär, um geliebt zu werden und sich auf die Schultern klopfen zu lassen (lacht). In meinen Augen geht es vielmehr darum, Zusammenhänge, vernetztes Denken und konstruktive Lösungsansätze aufzuzeigen, deren anschliessende Realisierung regelmässig mit dem Verlassen von Komfortzonen einher geht. Über mangelnden Umsetzungswillen und -erfolge kann ich mich nicht beklagen. Oftmals hat man es aber auch mit politischen Sachzwängen zu tun. Nehmen Sie zum Beispiel die für die Regulierung der globalen Schifffahrt zuständige Internationale Seeschifffahrts-Organisation IMO. Der UN-Sonderorganisation mit Sitz in London gehören 174 Länder als Vollmitglieder an – bis sich da eine Mehrheit auf neue Regulierungen und Gesetzte, zum Beispiel strengere Umweltauflagen geeinigt hat, kann viel Zeit verstreichen. Solche einheitlichen Regulierungen sind wichtig, da jede Verteuerung der Betriebskosten eines Unternehmens ohne existierende Gesetzesgrundlage, die nicht auch für die Mitbewerber gilt, einen gewichtigen Konkurrenznachteil und damit eigentlich ein betriebswirtschaftliches No-Go bedeutet. Wir brauchen also mehr und strengere Gesetze, deren Einhaltung aber auch konsequent kontrolliert und durchgesetzt werden muss. Das wird übrigens auch von der Kreuzschifffahrt gefordert und unterstützt.

Ihre Erfahrung macht Sie zu einem gefragten Experten. Sie führen zum Beispiel auch regelmässig und sehr erfolgreich Managementseminare auf Hochseeschiffen durch. Was können landgestützte Unternehmen von der Schifffahrt lernen?

Eine ganze Menge. Auf einem grossen Passagierschiff müssen bis zu knapp dreitausend Crewmitglieder aus bis zu achtzig Nationen autark und ohne unmittelbare Landanbindung zusammenarbeiten können. Temporär kommen bisweilen nochmals bis zu sechstausend Gäste hinzu. Sie haben es also mit einem Unternehmen und einer schwimmenden Stadt mit manchmal fast zehntausend Menschen zu tun. Das ist eine richtig grosse Firma! Auch verweilt ein Schiff nicht stationär an einem Ort, sondern wechselt ständig seine Position und sieht sich regelmässig mit unterschiedlichen lokalen Gegebenheiten, Vorschriften und Rahmenbedingungen konfrontiert. In Sachen Kommunikation, Organisation, Logistik, Teamwork und HR ist das eine ungemein komplexe Aufgabe. Einen zentralen Punkt bei diesen Seminaren bildet auch das so genannten BRM Bridge Resource Management in Anlehnung des aus in der Luftfahrt bekannten CRM, dem Crew beziehungsweise Cockpit Resource Management. Dieses findet beispielsweise zunehmend auch in Operationssälen von Spitälern Einzug.

Wo bestehen denn Parallelen zwischen der Schiffsführung eines grossen Kreuzfahrtschiffs und einer Operation im Spital?

Allein in Schweizer Spitälern sterben jedes Jahr über 2.000 Patienten an vermeidbaren Fehlern und Komplikationen. Diese Fehler entstehen in den allermeisten Fällen aufgrund einer zu hierarchisch und wenig teamorientiert praktizierten Fehler- und Führungskultur mit zu schlechter Kommunikation. Würde so in der Fliegerei oder Schifffahrt gearbeitet, hätten wir täglich Abstürze und einen Schiffsfriedhof voller Wracks ...

Wie funktioniert dieses Bridge Resource Management?

Es zielt im Wesentlichen darauf ab, Teamwork, Vertrauen, Kooperation, Methodik, situative Aufmerksamkeit, Führungsverhalten, Entscheidungsfindung und die Kommunikationskultur unter der Brückenbesatzung und darüber hinaus mit der restlichen Schiffscrew zu schulen, damit eine effektive Zusammenarbeit im ganzheitlichen System «Schiffsführung» gewährleistet werden kann. Ein wichtiger Teilbereich des BRM ist die Aufteilung von Aufgaben und die Absprache darüber, wer welche Aufgaben übernimmt. Der Kapitän – erfreulicherweise immer mehr auch die Kapitänin – soll zwar weiterhin das letzte Wort haben, die übrigen Schiffsoffiziere aber viel stärker in Entscheidungen und Verantwortungen eingebunden werden.

«Ich hoffe sehr, dass die persönlich-individuelle Gestaltung von Landaufenthalten bald wieder möglich sein wird.»

Oft wird Kreuzfahrten vorgeworfen, dass es sich hierbei um eine sehr oberflächliche Reiseform handelt, da man nur einige wenige Stunden in den jeweiligen Häfen verweilt ...

Das hört man viel. Vielleicht müsste man sich fragen, nach welchen Richtlinien ein Reiseerlebnis bewertet werden soll und grundsätzlich zwischen Reisen und Ferien unterscheiden. Für die meisten Menschen gehen Ferien mit dem Wunsch nach Erholung in einem relativ engen Zeitrahmen einher. Je nachdem, welche Erlebnis- bzw. Erholungsbedürfnisse die einzelnen Menschen mit Ferien verbinden, kann eine Kreuzfahrt oder ein Strandurlaub passender sein, als mit Nomaden in der Mongolei unterwegs zu sein. In den zahlreichen Hotelanlagen dieser Erde gibt es überdies viele Gäste, die sich zwar geografisch in einem Land aufhalten, aber nie nur einen Fuss ausserhalb ihres Ghettos setzen. Ich persönlich fand es, neben meiner Liebe zum Meer, zudem gerade auf Schiffsreisen immer äusserst eindrücklich, im Zeitraffer einzelne Fragmente der geografischen, kulturellen und meteorologischen Vielfalt der bereisten Regionen gegenüberzustellen, in die Erlebniswelten der verschiedenen Destinationen einzutauchen und zu einem inspirierenden, sinnlich-reichen Portfolio und Kaleidoskop zusammenzuführen. Auf herkömmliche Weise lässt sich das nie so vielfältig und facettenreich umsetzen. Anderseits bleibt so natürlich tatsächlich weniger Zeit, die ganze Bandbreite einer Destination oder Region zu erfahren, was ich ebenso mag und oft tue.

Kann man die von Ihnen beschriebene Vielfalt auf den von den Kreuzfahrtgesellschaften angebotenen organisierten Landausflügen wirklich so intensiv erleben?

Vor Corona zwang Sie kein Mensch, nur an organisierten Gruppenausflügen teilzunehmen oder die immer gleichen Sehenswürdigkeiten abzuklappern, und ich hoffe sehr, dass die persönlich-individuelle Gestaltung von Landaufenthalten bald wieder möglich sein wird. Bei mir hat sich in all diesen Jahren ein ungemein bunter Strauss an tollen, individuellen Erlebnissen ergeben, und ich fühlte mich auf Kreuzfahrten immer reich beschenkt. Zum Beispiel beim Joggen in täglich wechselnden Destinationen in spannende Viertel oder Regionen fernab der Touristenströme.

Die Pandemie hält schon ein Jahr lang an. Reedereien gehören aktuell zu den grössten Verlierern. Wie lange halten es die Reedereien ohne laufendes Geschäft noch aus?

Das kommt darauf an, ob und inwiefern die Pandemie dereinst tatsächlich beherrschbarer wird. Was den Reedereien momentan entgegenkommt, ist die teilweise hervorragende Buchungslage für Reisen, welche für 2022 oder 2023 geplant sind. Das straft Aussagen von beispielsweise Zukunftsforscher Matthias Horx Lügen, der im «Club» von SRF meinte, dass «beschleunigte Formen des sehr erhitzten, sehr schnellen Kapitalismus wie Kreuzfahrtschiffe in der Ökonomie der Zukunft so nicht wiederkommen werden». Wer so etwas sagt, versteht einmal mehr das Wesen der Kreuzfahrt nicht. Vor allem aber unterschätzt er die eingangs erwähnte Sehnsucht vieler Menschen nach Ferien auf dem Meer. Die Premiumreederei Oceania Cruises gab zum Beispiel unlängst bekannt, dass die für 2023 aufgelegte 180-tägige Weltreise innerhalb eines Tages ausverkauft war und man anfangs März den erfolgreichsten Buchungstag der Geschichte verzeichnete, nachdem die «Tropics and Exotics Collection 2022-2023» vorgestellt wurde. Solche Erfolgsmeldungen stimmen die Kapitalmärkte – im Moment noch – gnädig, vorläufig halten sie der Branche die Stange.

Noch ist offen, welche Reedereien wegen der Pandemie auf der Strecke bleiben. Bild: Thomas P. Illes

Welche Reedereien bleiben womöglich auf der Strecke?

Man könnte meinen, dass es kleinere Reedereien, die keinem grossen Konzern angehören oder Reedereien mit vornehmlich kleineren und/oder älteren Schiffen womöglich eher trifft. Einige sind ja schon aus dem Markt geflogen. Anderseits sind es gerade die kleineren – aber auch hochpreisigeren – Schiffe, welche im Moment im Vorteil bzw. besonders hoch in der Kundengunst zu sein scheinen. Vereinzelt fahren aber auch schon wieder grosse Schiffe wie von MSC, TUI oder AIDA. Etliche weitere sollen – zum Teil mit Impfpflicht – bald folgen. Zahlenmässig schlägt dort aber eine momentan festgelegte Begrenzung der Gästezahl auf maximal 60 Prozent der Maximalkapazität mehr zu Buche, obwohl grosse Schiffe aufgrund ihrer im Vergleich zu kleineren Schiffen besseren Effizienz auch mit tieferer Auslastung und günstigeren Preisen noch rentabel beziehungsweise mit nicht allzu grossen Verlusten zu operieren in der Lage sind. Dafür wurden diese Schiffe aber nicht konzipiert und gebaut. Mittel- und langfristig wird also auch hier eine erfolgreiche und wirksame Impfkampagne als eigentlicher Game-Changer gehandelt, um wieder mit höherer Auslastung, mehr Schiffen und einer nachhaltig vertretbareren Rentabilität fahren zu können.

Ankündigung, Startverschiebung, Ankündigung - die Reedereien müssen ihre Starttermine stetig wieder nach hinten schieben. Läuft die Branche nicht Gefahr an Glaubwürdigkeit zu verlieren - etwa bei Gästen, die schon sieben Mal umgebucht wurden?

Solange die Reedereien transparent kommunizieren – das taten sie anfänglich nicht immer – und den Gästen faire Stornierungsbedingungen- und/oder Umbuchungsoptionen anbieten, erweist sich die überwiegende Mehrzahl der Gäste bis jetzt nach wie vor als sehr loyal und zeigt grosses Verständnis für die schwierige Lage der Anbieter. Auch hat die Branche bewiesen, dass Kreuzfahrten dank den strengen Hygiene- und Sicherheitsprotokollen als eine der sichersten Reiseformen in Pandemiezeiten gelten dürfen. Allerdings zum Preis der gegenwärtig noch angesagten «Bubble» – mit grossen Einschränkungen der persönlichen Individualität, vor allem auch bei den Landausflügen. Mangels noch vieler anderer touristischer Alternativen wird aber fleissig gebucht. Zudem hat der angetretene Beweis der sicheren Durchführbarkeit solcher Reisen viel zum Vertrauensaufbau bei Kunden, Zulieferern und den Kapitalmärkten beigetragen. Wenn die Unsicherheiten aber noch lange andauern, kann die Stimmung schnell einmal kippen ...

Glauben Sie weiterhin an die massiven Wachstumspläne der Branche?

Ja, falls die Pandemie dereinst tatsächlich beherrschbarer wird, keine baldige neue Pandemie hinzukommt, nach der gegenwärtigen Pandemie noch genug Kaufkraft in den für den Tourismus relevanten Bevölkerungskreisen besteht, die Branche lernt, offener, konstruktiver und weniger ablehnend mit der ihr entgegengebrachter Kritik umzugehen und überzeugende Antworten auf die drängenden Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen zu liefern vermag sowie die politischen Rahmenbedingungen in absehbarer Zeit einen Restart zulassen. Nein, falls eine oder mehrere dieser Voraussetzungen nicht erfüllt werden können. Oder aber sie weicht auf bislang noch wenig erschlossene neue Märkte aus, die in den nächsten Jahren unter Umständen überproportional wachsen könnten. Zu welchem Preis und wer diesen letztlich in welchem Ausmass zu bezahlen hat, ist wie gesagt wieder eine andere Frage. Aber auch hier lassen sich wieder Gegenargumente ins Feld führen ...

Zum Beispiel?

Kreuzfahrtschiffe sind beispielsweise nicht dafür bekannt, den Einheimischen in den Städten immer knapper werdenden Wohnraum wegzuschnappen. Das schafft das so authentisch-individuell daherkommende Airbnb viel besser. Und weil die Verwaltung nicht in die Modernisierung von Kanalisation und Kläranlagen investiert hatte, floss ein Teil des Abwassers von Palma de Mallorca immer wieder ungereinigt ins Meer, währenddessen die im Hafen liegenden Kreuzfahrtschiffe mit ihren modernen bordeigenen Kläranlagen ihre Abwässer wieder nahezu in Trinkwasserqualität umwandelten. Auch stellte beispielsweise das Tourismusbüro Wonderful Copenhagen unlängst fest, dass Kreuzfahrtgäste täglich 60 Prozent mehr Abfall recyceln als die durchschnittliche Person an Land. Ich will die Probleme und Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Kreuzfahrttourismus keinesfalls schönreden. Sie gehören benannt und gelöst. Aber ich plädiere dafür, nicht in ein zu einseitiges Schwarz-Weiss-Weltbild zu verfallen, die Diskussion ausgewogen, objektiv und weniger sensationsheischend, polemisch und populistisch zu führen sowie den Gesamtkontext nie aus den Augen zu verlieren. Dann bewegen wir uns in einer ganz anderen Dimension, als 400 Kreuzfahrtschiffen, welche vor der Pandemie lediglich 2 Prozent des globalen Tourismus oder gar nur 0,5 Prozent der Handelsflotte auf den Weltmeeren ausmachten, zum Beispiel die Rolle eines Hauptverursachers der Klimaerwärmung zuzuschreiben ...