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Pythagoras Nagos: «Um das Interesse der Passagiere zu wecken, werden Reedereien zunächst sehr attraktive Preise durch sehr aggressive Rabatte oder Upgrades anbieten.» Bild: Hintergrund Cut & Cotton/Portrait: zVg/Montage: TN

«Die Kreuzfahrtgesellschaften werden sich kurzfristig einer Schadenskontrolle zuwenden»

Jean-Claude Raemy

Pythagoras Nagos, ehemaliger Managing Director von MSC Cruises in der Schweiz, gibt im Interview seine Ansichten zur Coronavirus-Krise allgemein und zu deren Auswirkungen auf die Kreuzfahrt im Besonderen weiter.

Herr Nagos, basierend auf Ihrer langjährigen Erfahrung im Leisure-Tourismus: Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation?

Pythagoras Nagos: Das aktuelle Tourismusmodell hat schon vor der Corona-Krise Schwachstellen gezeigt, mit der Insolvenz von einigen, auch grossen, Reiseveranstaltern sowie mittelgrosser Fluggesellschaften im Jahr 2019. Das Massentourismus-Modell wurde von der Pandemie nochmals schwer erschüttert.

Die Pandemie befindet sich derzeit in den meisten europäischen Ländern in einer milderen Phase, dank den restriktiven Massnahmen. Die touristische Saison 2020 hat jedoch kaum angefangen! Der Rest der 2020-Saison ist für die Branche mit vielen Unsicherheiten verbunden. Man verspürt eine «gemässigte Zurückhaltung» bei Endkunden. Viele Marktteilnehmer sind der Meinung, dass das Jahr 2020 quasi «abgefahren» ist und dass man sich dem Niveau von 2019 in den Bereichen Tourismus, Kreuzfahrt und Luftverkehr erst im Laufe von 2022 wieder nähern wird.

Was heisst das nun für die Vermarktung, gerade in der Kreuzfahrt?

Tourismusunternehmen müssen Produkte und Dienstleistungen parallel für mindestens zwei wenn nicht sogar drei Jahre vermarkten, nämlich die laufende Saison sowie ein Fokus auf die nächsten zwei Saisons. Sprich: Man wird für 2020 werben, für eine Schadensbegrenzung mittels Last-Minute-Buchungen und dergleichen, aber tatsächlich sich auf die Vermarktung der Saison 2021 konzentrieren. Diese Strategie wird bereits von grossen bzw. spezialisierten Reiseveranstaltern, Hotelketten, Kreuzfahrtunternehmen und Fluggesellschaften konsequent verfolgt.

Glauben Sie, dass sich viele für Buchungen von Reisen 2021 verleiten lassen?

Ich gehe davon aus, dass Kunden, die sich für eine bestimmte Reise interessieren, überhaupt kein Problem damit haben, diese jetzt schon für 2021 zu buchen. Dies beweisen die Ergebnisse von rollenden Markterhebungen in grossen europäischen Märkten, aber auch in den sehr wichtigen Übersee-Märkten wie, USA, Kanada, Südamerika, Fernost und Australien. Der Trend, jetzt schon für 2021 Ferien zu buchen, dürfte besonders bei Longhaul-Märkten ausgeprägt sein.

Der künftige Erfolg von Tourismusdestinationen sowie von Tourismusunternehmen wird in hohem Masse davon abhängen, ob sie überzeugende Antworten auf das veränderte Konsumentenverhalten von Reisenden geben können.

«Der Preis wird vorerst nicht mehr die entscheidende Rolle spielen.»

Welche sind denn die Haupttrends bei Konsumenten?

Die Erwartungen der Reisenden ändern sich rasant, das taten sie auch schon vor Corona: Diese suchen vermehrt nach echten, authentischen Reiseerlebnissen, in «menschlichen» Dimensionen, und wozu es Informationen aus zuverlässigen Quellen gibt! Ich gehe davon aus, dass es vorläufig viel mehr FIT und weniger Massentourismus geben wird. Dieser macht eine Transformationsphase durch. Viele Reiseveranstalter, die diesen Trend schon erkannt haben, haben sich umorientiert, viele Abteilungen bereits neu organisiert, neue Produkte/Dienstleistungen und neue Strategiemodelle entwickelt.

Der Reise-Suchvorgang dauert heute länger. Reisende suchen nach zusätzlichen Informationsquellen und Kommentaren, die sie auf verschiedenen Internet-Plattformen finden können, um besseren Einblick in das gewünschte Reiseziel zu erhalten. Der Preis wird vorerst nicht mehr die entscheidende Rolle spielen, da der Reisende sich bereit erklärt, mehr für die Dienstleistungen zu zahlen, wenn er der Ansicht ist, dass die Gesundheit der Familie sichergestellt ist und die Ferien einzigartig sind.

Dann werden bereits vor Corona bestehende Trends nicht einfach aufhören. Beispielsweise, dass innerhalb eines Jahres weniger, dafür «intensivere» Ferien gebucht werden. Dass mehr Aktivitäten eingebunden werden, nicht nur im sportlichen Sinn, sondern auch in Form der Einbindung in lokale Aktivitäten mit Einheimischen. Dass Gastronomie eine wachsende Rolle spielt. Dass Gesundheit und Wellness wesentlich sind. Und natürlich Umweltfreundlichkeit bzw. Nachhaltigkeit.

Sie sprechen da von Leisure-Reisen. Was ist mit Geschäftsreisen?

Allen Anzeichen nach werden diese in den nächsten 12 Monaten für alle europäischen Märkte erheblich, wenn nicht gar drastisch, reduziert. Die Erfahrung mit den Telefonkonferenzen während des Lockdowns, in Verbindung mit den strengen Kürzungen bei den Geschäftsreiseausgaben/-budgets und der Angst vor einer möglichen Neuansteckung während den Geschäftsreisen, tragen zu diesem Trend bei. Die meisten Fluggesellschaften scheinen dies berücksichtigt zu haben, wenn es um ihre Flottennutzung bis Ende 2021 geht.

OK, kommen wir zu Ihrem Kerngebiet, den Kreuzfahrten. Was erwarten Sie dort?

Die Kreuzfahrtindustrie wird den oben genannten Trends folgen und Kreuzfahrtschiffe werden wahrscheinlich erst nach den Sommerferien bzw. im Frühherbst 2020 von den Heimathäfen wieder loslegen. Zudem dürften viele der schon angekündigten Schiffbauprogramme sich an die neuen Trends zumindest für europäische Reisende anpassen, sprich, dem Trend zu einer Rückkehr zu Kapazitäten von bis zu 3000 Passagieren oder noch kleineren Schiffen. Es ist denkbar, dass bereits vorhandene grosse, moderne Kreuzfahrtschiffe mit Kapazitäten von bis zu 5000 Passagieren für eine gewisse Zeit andere Märkte - Karibik, Südamerika, Ferner Osten - ansteuern.

Was ist mit den Gesundheitsbedenken?

Die strengen Gesundheits- und Hygieneprotokolle, nach denen die Tourismusbranche von nun an arbeiten sollte, werden wahrscheinlich sehr lange gültig sein. Das muss man gut ausarbeiten. Es ist zu einfach zu behaupten, dass die Protokolle aktuell den ISO-Zertifizierungen entsprechen. In der Lieferantenkette und in der Erwartung der Endkunden ändern sich die Erwartungen diesbezüglich.

Sehen Sie allenfalls auch Chancen?

Die Tatsache, dass einige Hotels in bestimmten Reisedestinationen im Mittelmeer möglicherweise in den nächsten 6 bis 12 Monaten nicht geöffnet werden, bieten den Kreuzfahrtschiffen die Möglichkeit, Reisende zu diesen Destinationen zu bringen und dabei eben auch eine Unterkunft zu bieten.

«Für geraume Zeit werden weniger Kabinen zum Verkauf stehen.»

Wie beurteilen Sie denn die aktuelle Lage in der Kreuzfahrtindustrie?

Riesenunternehmen, einige davon börsenkotiert, haben in den letzten Wochen zusätzliche Kredite in Milliardenhöhe aufgenommen, um die nötige Liquidität für die nächsten Monate zu gewährleisten. Kreuzfahrtschiffe stehen weiterhin still. Es gibt nur Kosten und keine Einnahmen. Ein denkbar schlechtes Szenario: Die Fixkosten der vier grössten Unternehmen der Branche sind atemberaubend und liegen je nach Reederei zwischen 150 Millionen und 1 Milliarde US-Dollar pro Monat!

In einer Branche, in der Milliarden von Dollar bzw. Euro in neue Schiffe, Renovationen oder Upgrades bestehender Schiffe und die nötige Hafeninfrastruktur investiert wurden und die immer noch als relativ neuer Akteur im Welttourismus gilt, ist es schwer vorstellbar, dass es nach dem Ende der Pandemie keine Erholung geben wird. Die Erholung wird jedoch auf längere Sicht kommen.

Die Denkfabriken der Kreuzfahrtgesellschaften überlegen sich derzeit, wie die Kreuzfahrtbranche aussehen wird, wenn wir wieder auf Reisen gehen können. Was braucht es, um einen Passagier davon zu überzeugen, eine Kreuzfahrt wieder zu buchen?

Um reisen zu können, müssen wir uns sicher fühlen. Ich erwarte deshalb, dass Ferien-Entscheidungen zunehmend auf der Grundlage von Gesundheitsparametern getroffen werden. Das zeigt sich schon jetzt: Man macht zuerst Ferien im eigenen Land, wo man sich sicherer fühlt und mit dem Auto reisen kann und schnell am Wohnort zurück ist, falls etwas Unerwartetes passiert. Das ist natürlich auch für die Kreuzfahrtindustrie von Nachteil.

Wir haben auch schon die neuen, strengen Hygiene- und Gesundheitsprotokolle gestreift. Die Kreuzfahrtindustrie verfügte schon vor der Pandemiekrise über sehr strenge Protokolle. Nun erwarte ich, dass diese noch strenger werden und eventuell auch die jeweiligen neuen Protokolle von Fluggesellschaften und Hotels mitberücksichtigen. Die Kreuzfahtgesellschaften müssen diese neuen Massnahmen ihren Kunden auf eine plausible Art erklären.

Wie lässt sich «Social Distancing» auf einem Schiff umsetzen?

Am Anfang und für geraume Zeit wird das heissen, es stehen weniger Kabinen zum Verkauf. Wenn die Massnahmen gelockert sind und Kreuzfahrten wieder möglich sind, dürften lediglich 30 bis 40 Prozent der verfügbaren Kabinenkapazität zum Verkauf angeboten werden. Das wird in der Praxis bedeuten, dass für einige Schiffe der Betrieb nicht rentabel ist. Bei den anderen bedeutet dies, dass auch viele Kategorien der Schiffsbesatzung - Hotelmitarbeiter in direktem Kontakt mit Passagieren, Künstler, Musiker/Tänzer, Wellness-Spa-Mitarbeitende - entsprechend prozentual reduziert werden.

Es hat auch Auswirkungen auf die Ausflüge. Die Busse, mit denen Passagiere auf Landausflügen oder von/zu Flughäfen befördert werden, können aufgrund der Anwendung der strengen sozialen Distanzierungsvorschriften mit maximal 50 Prozent oder gar weniger der Sitzkapazität fahren. Und: Die öffentlichen Räume der Schiffe werden anhand eines sehr strengen Serviceprotokolls betrieben, welchem das Hygiene-/ Gesundheitsprotokoll zugrunde liegt. Will heissen: Am Anfang ist es durchaus möglich, dass die Shows an Bord nicht angeboten werden, oder dann nur für eine limitierte Anzahl Passagiere. 60 bis 70 Prozent der vorhandenen Sitze müssen wohl leer bleiben. Um Menschenandrang und damit Massenansteckungen zu vermeiden, gibt es auf den Schiffen möglicherweise zunächst auch kein Selbstbedienungsbuffet. Das Frühstück vom Buffet kann durch einen Korb pro Passagier ersetzt werden, der den gesamten Inhalt des Frühstücks enthält und von jedem Passagier selbst aus einem bestimmten Bereich des Restaurants bezogen wird.

Zu einem späteren Zeitpunkt werden sich möglicherweise Änderungen im Innendesign ergeben, mit dem Ziel, den Kontakt der Passagiere mit der Schiffsoberfläche möglichst zu minimieren. Das werden technologisch fortschrittliche digitale Anwendungen sein, die beispielsweise den Check-in-Prozess oder die Bestellung an Bars, Restaurants usw. erleichtern und «touchless» machen.

Gibt es noch weitere solcher Innovationen?

Einige Kreuzfahrtgesellschaften werden möglicherweise über spezialisiertes medizinisches Personal auf ihren Schiffen verfügen. Dies wird dann wohl auch entsprechend als USP vermarktet, eben zum Aufbau des Sicherheitsgefühls beim Passagier.

Ich erwarte auch sehr strenge Gesundheitsbeschränkungen. Welche Passagiergruppen dürfen auf Kreuzfahrtschiffen reisen? Zum Beispiel wäre ein Verbot von Passagieren über 70 Jahren für eine gewisse Zeit denkbar. Passagiere müssen zudem in Zukunft von ihrem Arzt ein spezifisches Gesundheitszeugnis bekommen und dieses beim Check-In vorlegen, eine Art «Befähigt zu reisen»-Dokument.

«Denkbar wäre ein Verbot von Passagieren über 70 Jahren - für eine gewisse Zeit.»

Was erwarten Sie für den Rest der Saison 2020?

Wie oben erwähnt denke auch ich, dass die Saison 2020 im Wesentlichen verloren ist und sich die Kreuzfahrtgesellschaften einer Schadenskontrolle zuwenden müssen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele für die Sommersaison 2020 geplanten Kreuzfahrten in Europa (Mittelmeer und Nordsee) abgesagt werden. Das dürfte auch für Alaska gelten. Kreuzfahrtgesellschaften überprüfen ständig die aktuelle Lage und informieren Ihre Kunden; sie müssen aktuell die Entwicklung der Pandemie und die Ankündigungen der zuständigen staatlichen Behörden abwarten.

Gibt es Alternativen?

Eine Alternative, um die Kreuzfahrten 2020 in Europa nicht komplett annullieren zu müssen, könnte sein, diese zu Kreuzfahrten umzugestalten, welche nur an ein lokales geografisches Gebiet und Publikum gerichtet sind. Also etwa Kreuzfahrten, die nur von italienischen Häfen abfahren und nur an die Einwohner Italiens verkauft werden.

Die Karibik wird meines Erachtens sehr zögernd, wohl nicht früher als Ende 2020 wieder aufgenommen und dies wahrscheinlich mit Minicruises von 3-5 Tagen und nicht mit beliebten Reisen zu 7, 10/11 oder 14 Tagen.

Was passiert mit den Preisen?

Um das Interesse der Passagiere zu wecken, werden die Kreuzfahrt-Unternehmen zunächst sehr attraktive Preise mit sehr aggressiven Rabatten und/oder Upgrades anbieten. Dies dient dazu, die niedrigen Auslastungen zu verbessern, welche sie während den ersten Monaten nach der Wiederaufnahme der Betriebs befürchten. Es wird einige Monate dauern, bis wir die Preise für Kreuzfahrttickets wieder auf dem Niveau von vor der Coronavirus-Krise sehen. Die Ticketpreise werden sich voraussichtlich erst in der zweiten Hälfte von 2021 erholen, und im Vergleich zu Preisen von 2019 voraussichtlich immer noch auf -4 bis -8% bewegen - mit entsprechenden negativen Auswirkungen auf den erwarteten Umsatz).

Und: Es wird einfacher sein, erfahrene Kunden, also Repeaters, für eine Kreuzfahrt zu überzeugen, als Neukunden zu gewinnen.

Was erwarten Sie nun allgemein für die Zukunft der Kreuzfahrtindustrie?

Zunächst mal werden wir weit weniger Schiffe sehen, welche die Weltmeere durchkreuzen! Die Kreuzfahrtgesellschaften wissen, dass es für sie katastrophal wäre, ab dem Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Betriebes und für die nächsten 8-12 Monate mehr Kapazität als nötig auf den Markt zu bringen. Hier scheint die Regel zu lauten: Es ist besser Stop-Sales-Meldungen zu erlassen, als Schiffe mit leeren Kabinen abfahren zu lassen. Realistisch gesehen, wird sich die Branche langsam im Laufe von 2021 erholen, und hoffentlich im Laufe der Saison 2022 vollständig erholt haben.

Der Zeitpunkt für die Wiederaufnehme der Mittelmeerrouten sowie von Nordeuropa steht hinter einem grossen Fragezeichen. Die drei Branchenführer Carnival, Royal Caribbean und Norwegian Cruise Line, die bereits in China/Fernost stark vertreten sind, erwägen die Möglichkeit, innerhalb kurzer Zeit wieder in dieser Region zu starten, sobald die Bedingungen es erlauben. Dabei wird es sich aber um ethnische Produkte/Routen handeln, welche sich an die lokale Märkte richten.

Laut den meisten Prognosenwird im ersten Halbjahr 2021 etwa 50 Prozent der globalen Kreuzfahrtflotte reaktiviert sein, während erst im letzten Quartal 2021 bis zu 75 Prozent der Kreuzfahrtschiffe wieder auf den Weltmeeren kreuzen.

Und bis Ende 2020?

Vermutlich nur 30 bis 35 Prozent der globalen Kreuzfahrtflotte, und nur unter der Voraussetzung, dass die Entwicklung der Pandemie dies zulässt!